Bisswunden
Orthotolidin mit dem Blut auf Lenas Fell zu Stande kommt. Wie ich vermutet habe, passt der fluoreszierende Bogen auf der Schnauze meines alten Stofftiers perfekt zum Zahnbogen des Oberkiefers meines Vaters.
»Licht, bitte«, sage ich und habe Mühe, das Zittern aus meiner Stimme zu halten.
Eine Flut von Emotionen hat mich gepackt. Es ist eine widerliche Kombination aus Aufregung und Angst. Ich jage seit vielen Jahren Mörder, doch in diesem Augenblick wird mir bewusst, dass ich in Wirklichkeit mein ganzes Leben lang nur einem einzigen Killer auf der Fährte gewesen bin.
Das Klopfen an der Zimmertür lässt mich zusammenzucken.Als Mr. McDonough die Tür öffnet, steht ein älterer Mann dort und starrt mit offensichtlicher Neugier zu uns herein.
»Ich bin vom Büro des Amtsarztes«, sagt der Mann.
Mr. McDonough blickt mich an. »Sind Sie fertig?«
»Ich brauche noch drei Minuten.«
Mr. McDonough schließt die Tür wieder. »Beachten Sie den Burschen gar nicht. Das amtsärztliche Büro bezahlt Pensionäre und Rentner für Fahrdienste. Sie zahlen nach Meilen. Die Fahrer haben nicht die geringste Ahnung vom Geschäft.«
»Taschenlampe?«
Mr. McDonough reicht mir eine gelbe Taschenlampe aus der Schublade.
Ich taste mit einem Finger systematisch im Mund meines Vaters herum, während mein Puls rast. Was erhoffe ich mir? Ein paar Stofffasern von Lenas Fell? Eine Spur von einer anderen Person? Als mein Finger außen vor den Zähnen zwischen Backen und Kiefer entlangfährt, spüre ich plötzlich etwas Hartes, wie ein kleines Maiskorn. Mit Daumen und Zeigefinger nehme ich es heraus.
Es ist kein Mais. Es ist ein Plastikkügelchen – ein graues – ganz genau wie jene, die in meinem Traum aus der Schusswunde meines Vaters geströmt sind.
»Mein Gott …« , hauche ich.
»Was denn?«, fragt Mr. McDonough.
»Ein Plastikkügelchen. Es stammt aus diesem Stofftier. Ursprünglich wurden sie mit Reis ausgestopft, deswegen der Name. Nach einiger Zeit hat der Hersteller den Reis durch diese Plastikkügelchen ersetzt.«
»Ist das wichtig?«
»Es ist ein Mordbeweis. Haben Sie einen Ziploc-Beutel?«
Mr. McDonough geht einen Beutel holen, und ich lege das Kügelchen hinein. Weiteres Sondieren fördert drei weitere Plastikkügelchen an den Tag: Eines hinter der Backe und zwei im Hals.
»Sie haben zugesehen, wie ich diese Kügelchen gefundenhabe«, sage ich zu Mr. McDonough. »Ich habe sie nacheinander herausgenommen und in den Beutel gelegt. Haben Sie das gesehen, Sir?«
»Ja, Ma’am.«
»Und Sie werden es vor Gericht aussagen?«
»Ich hoffe, dass es nicht dazu kommt. Aber ich werde selbstverständlich sagen, was ich gesehen habe.«
Während ich die Latexhandschuhe von den Fingern streife, kommt mir ein beunruhigender Gedanke. Ich hätte den Mund meines Vaters untersuchen sollen, bevor ich Lenas Kopf hineingeschoben habe. Der Stress wird allmählich zu viel für mich. Ich reiche Mr. McDonough das Stofftier. »Bitte untersuchen Sie das hier und sagen Sie mir, ob Sie im Fell irgendwo Löcher finden können?«
Überraschenderweise zieht Mr. McDonough ebenfalls Latexhandschuhe an, bevor er meiner Aufforderung Folge leistet. »Ich kann nichts finden«, sagt er schließlich.
Ich wäre wirklich gerne ein paar Augenblicke mit meinem Vater allein, doch das könnte später juristische Probleme nach sich ziehen. Also knie ich mich vor den Augen des Leichenbestatters neben den Sarg, lege die Hand auf die meines Vaters und küsse ihn behutsam auf die Lippen. Ein wenig Schimmel wird mich nicht umbringen.
»Ich liebe dich, Daddy«, flüstere ich. »Ich weiß, dass du versucht hast, mich zu retten.«
Mein Vater schweigt.
»Jetzt werde ich mich selbst retten. Mich und Mama ebenfalls, wenn ich kann.«
Für einen Moment habe ich das Gefühl, als würde Daddy weinen. Dann wird mir bewusst, dass es meine eigenen Tränen sind, die über sein Gesicht laufen. Die eiserne Maske aus Professionalität, die ich bis zu diesem Augenblick aufrechterhalten habe, steht kurz vor dem Zerbrechen. Es ist schließlich kein anonymer Leichnam in diesem Sarg vor mir. Es ist mein Vater. Und ich will ihn nicht wieder verlieren. Ich will,dass er sich aufsetzt und mich hält und mir sagt, dass er mich liebt.
»Miss Ferry?«, fragt Mr. McDonough. »Ist alles in Ordnung?«
»Nein, nichts ist in Ordnung.« Ich stehe auf und wische mir die Augen. »Aber es kommt alles wieder in Ordnung. Zum ersten Mal im Leben sieht es danach aus, als käme endlich alles
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