Bisswunden
Selbsthass ist mir vertraut, und Vertrautheit bringt Beruhigung mit sich. Während die chemische Wärme sich in meinen Adern ausbreitet, höre ich erneut das Geräusch von trommelndem Regen. Der Regen aus meinen Tagträumen. Nicht das leise Plätschern von Tropfen auf meine Dachziegel, sondern das durchdringende, laute Prasseln von Regen auf einem Blechdach.
Ich hoffe nur, dass ich bald wegdämmere.
Ich erwache vom Geräusch des Regens, doch diesmal ist der Regen echt. Mein Schlafzimmerfenster steht offen, und Sean Regan lehnt darin, das Haar und die Schultern durchnässt bis auf die Haut. Hinter ihm eine Korona aus grauem Licht. Ich schaue auf den Wecker: zehn vor zwölf, kurz vor Mittag. Ich war sechzehn Stunden weggetreten.
»Du bist nicht ans Telefon gegangen«, sagt Sean.
»Tut mir Leid wegen gestern Abend«, entgegne ich mit trockener Kehle. Meine Stimme ist ein Krächzen. »So habe ich das alles nicht gewollt.«
»Das ist nicht der Grund, weswegen ich hier bin.«
Die Flasche Grey Goose hat sich in der Nacht selbstständig gemacht; der Wodka ist ausgelaufen. Mein Bettlaken ist feucht. Selbstverachtung steigt in mir auf wie Gift. »Warum bist du dann gekommen?«
»Unser Täter hat heute Morgen erneut zugeschlagen.«
»Bestimmt nicht.« Ich reibe mir die Augen; ich vermag esnicht zu glauben. »Es ist erst zwei Tage her. Bist du ganz sicher?«
»Diesmal war das Opfer ein fünfundsechzig Jahre alter männlicher Weißer. Bisswunden überall auf der Leiche. Kein gewaltsames Eindringen, wie es aussieht. Die Haushaltshilfe hat den Toten gefunden. Wir haben bisher keinen ballistischen Vergleich, aber wir haben das hier.«
Sean hebt die Hand und hält ein Blatt Papier in Richtung des Bettes. Es ist ein Foto. Selbst aus dieser Entfernung sehe ich, dass es ein Fenster zeigt. Auf dem Glas direkt über dem Rahmen stehen in Blut geschrieben die Worte: Meine Arbeit ist niemals getan.
»Heilige Scheiße.«
»Wir haben es bisher nicht an die Medien herausgegeben«, fährt Sean fort. »Deshalb würde ich sagen, der ballistische Vergleich ist mehr oder weniger eine Formalität. Das gilt auch für die Bisswunden.«
Ich rolle mich herum und versuche aufzustehen, doch mein ganzer Körper fühlt sich verkatert an. Vielleicht habe ich den Wodka nicht vertragen, nachdem ich vorher drei Tage lang nüchtern geblieben bin. Aber es war genügend übrig, um mein Bettlaken zu durchnässen, also habe ich die Flasche nicht ganz geleert. »Wo war Nathan Malik in der vergangenen Nacht?«
»Malik war die ganze Nacht zu Hause.«
»Seid ihr sicher, dass er ununterbrochen in seinem Haus gewesen ist?«
»Er wurde überwacht. Wir hatten natürlich niemanden, der bei ihm im Bett geschlafen hat, aber er war dort.«
Ich winke Sean herein und richte mich in eine sitzende Haltung auf. »Was soll ich tun? Ich will irgendetwas tun. Ich will helfen.«
Er klettert durch das Fenster und setzt sich mit untergeschlagenen Beinen auf den Boden. Die Haltung lässt ihn zwanzig Jahre jünger wirken, doch sein abgespanntes Gesicht verrät sein Alter. Anhand der dunklen Ringe um seine Augen – diedoppelt so viel seelische Last mit sich herumtragen als noch gestern – schließe ich, dass er seit unserer letzten Begegnung höchstens drei Stunden am Stück geschlafen hat.
»Möchtest du über das Baby reden?«, fragt er.
Ich schließe die Augen. »Nicht jetzt. Nicht hier und jetzt.«
»Dann sollten wir tun, was wir immer tun.«
»Und was?«, frage ich misstrauisch.
»An dem Fall arbeiten. Gleich jetzt.«
Ich spüre Erleichterung und einen merkwürdigen Funken von Aufregung. »Am Küchentisch?«
»Das hat immer funktioniert.« Er hebt die Fernbedienung vom Boden auf, schaltet den Fernseher ein und wechselt zu den Lokalnachrichten. Auf dem Bildschirm ist Captain Carmen Piazza zu sehen, die soeben aus einem blauen zweistöckigen Wohnhaus kommt. Special Agent John Kaiser geht einen Schritt hinter ihr.
»Das ist der Tatort«, sagt Sean. »Old Metairie. Die Medien bauschen die Sache auf. Die Story wird landesweit ausgestrahlt. Einige Cops nennen unseren Killer inzwischen Vampire Lestat.«
»Sag mir, dass das ein Witz ist!«, murmele ich und wünsche mir sehnlich, ich hätte eine Flasche Wasser neben meinem Bett stehen.
Sean lacht düster. »Hey, wir sind in New Orleans. Und es passt, wenn man genau darüber nachdenkt. Keine Zeugen, kein gewaltsamer Zutritt, wohlhabende weiße Opfer, Bisswunden überall.«
Ich frage mich, was der Killer von seinem
Weitere Kostenlose Bücher