Bisswunden
aus dem Haus schleichen konnte, ohne dass das Observationsteam etwas davon bemerkt hat?«
»Ich glaube nicht.« Sean beugt sich vor, und die Vorderbeine seines Stuhls kehren an den Boden zurück. »Aber es gibt immer einen Weg, nehme ich an.«
»Keine Thermobildkamera, um sicherzustellen, dass ein menschlicher Körper im Haus war?«
»Nein. Sie wollen heute Abend erst damit anfangen. Wie du schon gesagt hast, bisher lag zwischen den einzelnen Taten jeweils eine Woche. Ich glaube nicht, dass irgendjemand gestern Nacht das Gefühl von Dringlichkeit hatte.«
»Berühmte letzte Worte. Todeszeit?«
»Ungefähr gegen sieben Uhr heute Morgen.«
Ich blicke überrascht auf. »Also hat sich das Verbrechen bei Tag ereignet. Um diese Zeit sind schon eine Menge Leute unterwegs. Kaufen ihre Times Picayune und machen sich auf den Weg zur Arbeit.«
Er starrt mich auf merkwürdige Weise an, dann schüttelt er den Kopf. »Es ist Sonntag, Cat. Heute gehen die Leute nicht zur Arbeit.«
»Dann eben zur Kirche«, antworte ich rasch, während meine Wangen heiß werden vor Verlegenheit.
Seans Blick wankt nicht, und ich spüre, dass er meinen mentalen Zustand abzuschätzen versucht. »Keine Zeugen bisher«, sagt er schließlich. »Wir haben wie verrückt alles abgegrast. Wir suchen noch immer nach zwei Nachbarn, einem Ehepaar, aber bis jetzt hat niemand etwas beobachtet.«
»Der Killer könnte nachts ins Haus eingedrungen sein«, sage ich. »Und vielleicht ist er erst wieder gegangen, nachdem es draußen bereits hell war.«
»Lassen wir Calhoun für einen Augenblick beiseite«, sagt Sean und klopft mit einem Stift auf die Papiere, die er vor sich ausgebreitet hat. »Diese Kette – die fünf Opfer –, was denkst du? Was kommt dir in den Sinn? Einfach so?«
»Ich denke, es ist Malik«, sage ich. »Und falls er Calhoun heute Morgen nicht selbst erledigt hat, hilft ihm irgendjemand.«
»Vielleicht der gleiche Täter, der die Bisswunden hinterlässt? Ein Komplize?«
»Vielleicht, aber nicht unbedingt. Das könnte immer noch Malik sein.«
Sean blinzelt, als würde er nicht verstehen, was ich sage. »Gestern hast du gesagt, dass der Killer möglicherweise falsche Zähne benutzt, um die Bisswunden hervorzurufen. Ich hab irgendwie nicht alles richtig mitgekriegt. Und als du zu Hause warst …« Er verstummt, und ich sehe, dass er die grauenvolle Szene nicht erwähnen will, die wir gestern miteinander hatten, als ich betrunken war.
»Ich habe gesagt, der Killer könnte die Zähne von jemand anderem benutzen.«
»Du meinst eine Vollprothese?«
»Das würde funktionieren.«
»Aber wie stellt er es an, dass die Spuren echt aussehen? Das Gebiss über den eigenen Zähnen tragen?«
»Das wäre eine Erklärung. Doch dabei kommt unweigerlichsein eigener Speichel in die Wunde. Es gibt noch eine zweite Möglichkeit. Wenn Zahnärzte Abdrücke nehmen, befestigen sie diese an einem Gerät mit einem Gelenk, einem Artikulator. Damit simulieren wir das Öffnen und Schließen des Kiefers. Wir benutzen den Artikulator, um das Gebiss auf richtige Okklusion abzustimmen.«
»Okklusion?«
»Die Art und Weise, wie die Zähne sich überlappen. Der Biss. Malik hätte die Spuren mit einem Artikulator erzeugen können.«
Sean wirkt fasziniert. »Wäre es leicht für ihn, sich so einen Apparat zu beschaffen?«
»Kann man im Internet bestellen. Oder er hat einen aus Dr. Shubbs Labor gestohlen, wie ich gestern schon sagte. Du solltest dich mit Dr. Shubb in Verbindung setzen und überprüfen, ob im Verlauf der beiden letzten Jahre ein Artikulator aus seiner Praxis verschwunden ist. Vielleicht ist es ihm bis jetzt noch gar nicht aufgefallen.«
Sean macht eine Notiz auf einem kleinen Spiralblock. »Und das Gebiss?«
»Das Gleiche. Malik könnte es gestohlen haben. Oder es gehört einem Verwandten, wie Francis Dolarhydes Großmutter.«
Sean starrt mich verständnislos an. »Wer?«
»Der Killer in Roter Drache .«
»Ach ja. Du hast es bereits erwähnt. Ich habe den Film gesehen, aber ich kann mich nicht mehr an Einzelheiten erinnern.«
»Du hättest das Buch lesen sollen. Es ist eine entscheidende psychologische Geschichte, dieses Gebiss. Für uns von Interesse ist allerdings lediglich die Tatsache, dass Malik ein Gebiss benutzt haben könnte, und das kann er von beinahe überall her haben. Ein Familienmitglied – lebend oder tot – ist nur eine Möglichkeit. Ich möchte, dass du sämtliche Informationen durchgehst, die du über Maliks Verwandtschaft
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