Bitter Lemon - Thriller
geschleift, und Melaten mauserte sich im Lauf der Zeit zum Prominentenfriedhof. Dort waren namhafte Kölner Künstler und Politiker begraben, Schauspieler und Schriftsteller, Industrielle und Bankiers.
Und die Abiturientin Dalia Jerkov.
Für die Bestattung auf dem Prominentenfriedhof hatte Pfarrer Tomislav Bralic gesorgt.
Ein schlichter Grabstein aus Granit. Name. Geburtsdatum. Todesdatum. 18 Jahre nach der Geburt.
Vor dem Grab stand Zoran Jerkov.
Er trug denselben speckigen Anzug, den er bei seiner Haftentlassung getragen hatte. Er hielt den Kopf gesenkt. Das Haar war nun nicht mehr schwarz und seitlich gescheitelt, sondern dunkelblond gefärbt und nach hinten gekämmt. Außerdem hatte er sich einen Kinnbart wachsen lassen, der ebenfalls blond gefärbt war. Konnte der so schnell gewachsen sein? Unmöglich. Also war er künstlich und angeklebt.
Zoran sah jedenfalls völlig verändert aus. Gut zehn Jahre jünger als bei seiner Haftentlassung.
Tränen liefen über seine Wangen. Er flüsterte, hielt Zwiesprache mit seiner toten Tochter. Seit zwanzig Minuten schon.
Schließlich bekreuzigte er sich und ging.
Der Kies knirschte unter seinen Schuhen.
David erhob sich von der Parkbank und trat ihm entgegen.
Zoran schien nicht weiter überrascht zu sein.
Sie umarmten sich stumm.
Als gäbe es nichts zu sagen.
Es gab so viel zu sagen, Zoran.
»Sie war zauberhaft, David. Ja, das ist wohl das richtige Wort. Ein zauberhafter Mensch. Alle haben sie geliebt. Sie war ein Geschenk für diese Welt. Ein Gottesgeschenk. Aber Gott hat ihr nicht viel Zeit gegeben. Leukämie ist eine tückische Krankheit. 18 Jahre nur durfte sie leben. Die meisten Jahre davon hat mir Milos Kecman geraubt. Auch dafür muss er sterben.«
Sie setzten sich auf die Parkbank.
»Warum sagst du nichts, David?«
»Die ersten Jahre mit deiner Tochter hast du dir selbst geraubt, Zoran. Als du in diesen hirnrissigen Krieg gezogen bist … statt dich um die schwangere Alenka zu kümmern.«
Zoran dachte darüber nach.
Schließlich schüttelte er den Kopf. Und das Thema war für ihn erledigt. Er zog eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche.
»Nil. Immer noch die alte Marke, Zoran.«
»Klar. Willst du eine?«
David nickte.
Zoran ließ das Zippo aufspringen und gab ihm Feuer.
»Seltsam. Ich hätte gewettet, du rauchst längst nicht mehr.«
»Im Prinzip hast du richtig geraten. Ich habe auch jahrelang nicht mehr geraucht … und vergangene Nacht wieder damit angefangen.«
Zoran steckte sich selbst eine an.
»Warum?«
»Warum ich aufgehört hatte? Das war in Washington. Da rauchte kein Mensch. Und es war ziemlich nervig, immer …«
»Ich meinte, warum hast du letzte Nacht wieder damit angefangen?«
»Die Frauen waren in Sicherheit. Und die Polizei war auf dem Weg. Im Auto hat mir dann Artur eine angeboten. Ich musste nachdenken. Die Zigarette half beim Nachdenken. Zoran, warum musstest du all diese Menschen töten?«
»Das sind keine Menschen. Das sind Tiere. Du weißt doch, was die tun, David. Das sind gefährliche Raubtiere. Das war ein Fehler, mit dem Rauchen aufzuhören, nur weil deiner neuen Umgebung das nicht in den Kram gepasst hat.«
»Zoran, entweder begreift man sich in dieser Welt als soziales Wesen, oder man begreift sich als asoziales Wesen. Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden.«
»Meine Güte. Wo hast du den Spruch denn her?«
»Das hat Rosa Luxemburg gesagt.«
»Wer ist das?«
»Sie war eine sehr kluge Frau. Sie starb für ihre Ideale.«
»Dann kann sie nicht besonders klug gewesen sein.«
Zoran sagte das ohne Häme. Er sagte es vielmehr, als beschriebe er ein Naturgesetz. Auf Blitz folgt Donner, auf Ebbe die Flut.
»Ich weiß, ich weiß, Zoran. Ich werde ihn nie vergessen, deinen Jack-London-Spruch: Das Leben ist nichts weiter als ein Gärungsprozess von der Geburt bis zum Tod .«
»War ein kluger Mann, der alte Jack.«
»Du wirst sterben, Zoran.«
»Ich bin längst tot, David.«
Zoran blinzelte durch das Geäst der Ulme neben der Parkbank hinauf in den wolkenlosen Himmel.
»Irina aus Moldawien. Sie war eine gute Schülerin. Ihre Mutter war so stolz auf sie. Man hat sie erdrosselt und weggeworfen. Weil ich nicht auf sie aufgepasst habe, David. Du hättest Irinas Augen sehen müssen. Dann würdest du mich verstehen. Diese stumme Hoffnung in ihren Augen, als ich sie aus diesem verfluchten Haus geholt habe, als ich ihr meinen Mantel um die nackten, zitternden Schultern gelegt habe, als sie
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