Bitter Lemon - Thriller
hier Feuer gelegt worden, vielleicht von übermütigen Jugendlichen aus dem nächsten Dorf, und nur die alte Holztür war den Flammen erlegen.
Kristina wartete geduldig, bis die nächste Cargo-Maschine mit dem UPS-Schriftzug die Einflugschneise der Querwindbahn erreichte und den Wald mit ihrem Grollen füllte. Dann trat sie die schmalen, wurmstichigen Bretter ein, bis die Lücke gerade groß genug war, um hindurchzuschlüpfen.
Draußen stach die Sonne bereits unbarmherzig vom Himmel, aber drinnen war es stockdunkel. Und empfindlich kalt. Ein modriger Geruch stieg ihr in die Nase. Kristina schaltete die Taschenlampe ein.
Die Empfangshalle war gigantisch groß.
Geradeaus führte eine breite Treppe hinauf in den ersten Stock, links und rechts der Treppe standen die weißen Flügeltüren weit offen. Der Lack blätterte. Die Nähte der Tapete aus bordeauxrotem Samt bogen sich wie die Haut einer im kochenden Wasser aufgeplatzten Bockwurst …
So weit passte alles perfekt zu Zorans Beschreibung. Nur die Biedermeiermöbel, die Teppiche und die Gemälde waren verschwunden. Kristina ließ den Lichtkegel der Taschenlampe über die Wände huschen. Dunkle Ränder auf der Tapete zeichneten die Umrisse der barocken Rahmen nach.
Kristina machte sich an die Arbeit.
Die Villa war komplett ausgeräumt. Vom Dachstuhl bis zum Keller. Auch das Zimmer, in dem in einer Januarnacht vor zwölf Jahren ein moldawisches Mädchen nackt und gefesselt auf einem Gynäkologenstuhl gelegen hatte.
Kristina stieß die Fensterläden auf.
»Was haben Sie hier zu suchen?«
Kristina fuhr erschrocken herum. Die dunkle Stimme gehörte einem älteren Mann mit grauem Vollbart, der ein Gewehr geschultert hatte und einen Jagdhund an der Leine hielt.
»Guten Morgen. Ich bin hier nur zufällig …«
»… mit einer Videokamera vorbeigekommen. Sie können mich nicht für dumm verkaufen. Niemand kommt hier zufällig vorbei. Außerdem haben Sie die Tür eingetreten.«
»Die Tür? Was für eine Tür? Meinen Sie die Bretter?«
»Das ist Hausfriedensbruch.«
»Wessen Frieden soll ich denn gestört haben? Sind Sie etwa der Eigentümer des Hauses?«
»Nein. Ich bin der Förster. Gerald Räderscheidt. Und wer sind Sie? Haben Sie ebenfalls einen Namen?«
»Entschuldigung. Kristina Gleisberg. Ich bin Journalistin.«
»Journalistin. Irgendwoher kenne ich Sie.«
Kristina zuckte mit den Schultern.
»Also? Was machen Sie hier?«
»Sind Sie schon lange als Förster tätig, Herr Räderscheidt?«
»Kann man wohl sagen.«
»Und sind Sie hier aufgewachsen?«
»Im nächsten Dorf.«
»Dann wissen Sie sicher eine Menge über das Haus.«
»Schon möglich.«
Die Augen des Jagdhundes folgten flink und aufmerksam dem verbalen Pingpongspiel.
»Wem hat es denn ursprünglich gehört?«
»Ursprünglich? Die Villa wurde Ende des 19. Jahrhunderts gebaut. Von einer Kölner Industriellenfamilie. Für die Jagd. Als Wochenendhaus. Und für die Sommerfrische. Da gab es noch nicht die Naturparksatzung. Und wenn man genug Geld und Einfluss hatte, stand einer Baugenehmigung mitten im Wald nichts im Weg. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Villa an das allgemeine Stromnetz angeschlossen und an die öffentliche Trinkwasserversorgung über die Wahnbachtalsperre, da wurden extra Leitungen vom Dorf hierher verlegt. Und in den Keller kam ein großer Öltank für die neue Zentralheizung. Aber Mitte der sechziger Jahre verlor die Familie zunehmend das Interesse an dem Haus. Da reiste man lieber in den sonnigen Süden. Marbella oder so etwas. Die Waldlichtung ist nämlich die meiste Zeit des Jahres ziemlich feucht und düster. Außerdem nahm der Lärm zu. Sie hören es ja. Das hält ja kein Mensch aus. Nur die Tiere halten es aus, seltsamerweise. Aber die wissen es ja nicht besser, und wo sollen die auch hin? In den Kölner Zoo?«
Er schaute sie erwartungsvoll an.
Sie signalisierte ihm mit einem freundlichen Lächeln, dass sie den Scherz verstanden hatte.
»Wir haben ja hier kein Nachtflugverbot. Deshalb wurde die Villa Anfang der siebziger Jahre verkauft, an einen Investor, der daraus ein Hotel machen wollte. Doch die Firma ging pleite, noch bevor der Umbau beginnen konnte, die hatten sich mit einem anderen Projekt irgendwo in Bayern schwer verhoben. Stand so in der Zeitung. War sowieso eine Schnapsidee. Wer will denn wohl hier Urlaub machen? Bei dem Lärm tags und nachts. Seither gehört die Villa einer Bank in Süddeutschland. Insolvenzmasse. Die Bank war Hauptgläubigerin des
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