Bitter Lemon - Thriller
konnte.
Kaum hatten Artur und David die Schranke am Bayenturm passiert, war es mit der Orientierung vorbei. Auch die geparkten Autos waren nur aus unmittelbarer Nähe zu identifizieren, weil die Pfeiler aus der Distanz wie eine undurchdringliche Mauer wirkten und jegliche Sicht auf die Parkbuchten raubten.
»Hast du eine Ahnung, wo …«
»Keine Ahnung.« Artur schüttelte den Kopf und ließ den R4 im zweiten Gang durch die leicht abschüssige Röhre rollen. Artur beobachtete die linke Seite, David die rechte Seite. Sie würden bis zum Ende des Tunnels fahren und umkehren, sie würden das Ganze wiederholen, bis sie etwas entdeckten, und wenn sie nichts entdeckten, wäre alles vorbei, vergebens, weil sie keinen Plan hatten, weil alles dem Zufall überlassen war, weil das alles ein einziger Irrsinn war, weil …
In der gelben Zone nahm David aus dem Augenwinkel eine Stahltür wahr, die in diesem Augenblick ins Schloss fiel.
Ausgang 6.04
Und einen Mann, der sich hinter einen Audi kauerte.
Mit einem Scharfschützengewehr.
David erkannte den Mann.
Lars Deckert.
Uwe Kerns Laufbursche.
Ihre Blicke begegneten sich für den Bruchteil einer Sekunde, und David registrierte die Bestürzung in Deckerts Augen.
»David. Da vorne.«
Artur deutete durch die Windschutzscheibe auf einen großen, schwarzen Mercedes, der ihnen entgegenrollte. Der Mercedes war noch knapp 50 Meter entfernt, als er abrupt bremste. Zwei, drei Sekunden verharrte der Wagen bewegungslos, dann rollte er im Schneckentempo einige Meter rückwärts. Die Räder wurden eingeschlagen, dann kroch der Mercedes rückwärts in eine freie Parkbucht, die der Fahrer offenbar zunächst übersehen und erst entdeckt hatte, als er schon an ihr vorbeigefahren war.
Zwischen den Pfeilern ragte nur noch der schmale, geschrägte Kühlergrill mit dem silbernen Stern hervor.
»Fahr an ihm vorbei, Artur. Genau in diesem Tempo.«
»Und dann?«
»Mindestens zehn Meter, und dann in die nächste Parklücke. Wenn’s geht, auf der gegenüberliegenden Seite.«
Erst als der R4 den Mercedes passierte, öffneten sich die Vordertüren der Limousine. Zwei Typen in Lederjacken stiegen aus. Knapp zwanzig Meter weiter stieß Artur vorwärts in eine Parkbucht und schaltete den Motor aus. Als sie die quietschenden Türen des R4 öffneten, wurde die Tiefgarage vom anschwellenden infernalischen Lärm eines sich rasch nähernden Motorrads erfüllt. Die Lederjacken duckten sich hinter den Pfeiler neben dem Mercedes. Das Handzeichen, das sie durch die Windschutzscheibe gaben, war unmissverständlich: sitzen bleiben.
Das Motorrad raste vorbei wie ein brüllender Schatten. Die Lederjacken gaben Entwarnung.
»Eine Triumph Tiger«, flüsterte David. »Haben wir da gerade deine Maschine gesehen?«
Artur nickte. Resignation im Blick.
»Zoran?«
Artur schüttelte den Kopf.
»Nein … sag bitte, dass das nicht wahr ist …«
Artur schwieg.
»Maja?«
Artur nickte erneut.
»Das Ding wiegt doch fast eine halbe Tonne.«
»Kein Problem für Maja. Unterschätze sie nicht.«
»Was hat sie vor?«
»Was schon, David? Was schon? Sie will ihren Bruder warnen. Zoran davon abhalten, dass er …«
Artur brach mitten im Satz ab und deutete mit dem Kopf zu dem Mercedes. Der Albino war ausgestiegen. Er stand mitten auf der Fahrbahn und starrte dem Motorrad nach.
Der Albino hob den Arm. Milos Kecman stieg aus. David rief in seinem Gedächtnis die Zeitungsfotos ab. Kecman war kaum gealtert, seit dem Prozess in Den Haag. Jedenfalls sah er nicht aus wie 56. Schlank, kein einziges graues Haar. Tadelloser Anzug. Die beiden Schläger bildeten einen Schutzwall.
In diesem Augenblick ging die Sprinkleranlage los und setzte mit ihrem feinen Sprühregen aus tausenden Düsen die Tiefgarage unter Wasser. Kecman sprang mit einem Satz zurück in den Mercedes, um sich nicht den Anzug zu ruinieren, der Albino brüllte Kommandos in russischer Sprache, die Schläger rannten daraufhin zum Kofferraum, öffneten ihn und brachten Regenschirme zum Vorschein. Wie aus dem Nichts tauchte der Hausmeister zwischen den Pfeilern der gegenüberliegenden Seite auf und schlurfte über die Fahrbahn, ein alter Mann mit gebeugtem Rücken unter dem grauen Kittel. In der einen Hand trug er eine Werkzeugkiste, in der anderen Hand eine Wasserrohrzange. Der Albino beachtete ihn nicht weiter. Der Hausmeister stellte die Werkzeugkiste ab, wirbelte herum und schlug dem Albino die Wasserrohrzange mit aller Kraft mitten ins Gesicht. Dann
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