Bittere Mandeln
nicht hinfahren. Ich habe schon wieder ein Haiku bekommen, und das scheint sich eindeutig auf ein Fest zu beziehen. Ich halte das für ein schlechtes Omen.«
Tante Norie schwieg. Wahrscheinlich kämpfte sie mit sich, ob sie mich nach dem Inhalt des Haiku fragen sollte. Aber sie tat es nicht. Statt dessen sagte sie: »Wenn ich nicht zu dem Fest erscheine, vermuten die anderen Frauen womöglich, man hätte mich aus der Schule geworfen. Das lasse ich nicht zu.«
Tja, der alte Stolz der Shimuras. Der war einem nicht immer zuträglich, aber allein würde ich sie keinesfalls fahren lassen.
»Na schön«, sagte ich.
»Gut. Jetzt müssen wir uns nur noch darüber unterhalten, was du tragen wirst. Ich kann dir einen Kimono leihen, der für mich zu mädchenhaft ist. Hast du ein Paar passende zōri für deine großen Füße? Und tabi für drunter?«
»Ich habe meinen eigenen Kimono … Hältst du es wirklich für eine gute Idee, wenn Onkel Hiroshi uns begleitet? Er findet das vielleicht langweilig.« Mir wäre es lieber gewesen, wenn Tom mitgekommen wäre, denn der war jünger und kräftiger, falls es tatsächlich Probleme gab.
»Dein Onkel freut sich schon auf das Fest, weil er in den letzten Jahren nie daran teilnehmen konnte. Tsutomu kommt auch mit, weil ich ihn den Töchtern der anderen Lehrerinnen vorstellen möchte. Ich habe bereits geantwortet, daß wir alle erscheinen werden, Hiroshi, Tsutomu, du und ich – die ganze Shimura-Familie!«
Wieder einmal hatte Norie mich zu etwas überredet, das ich eigentlich nicht tun wollte. Jetzt war ich hin und her gerissen. Ich wäre lieber in Tokio geblieben und Richard zu seinem Treffen mit der Stop-Killing-Flowers-Gruppe nachgeschlichen, aber ich mußte auch meine Tante beschützen. Es wäre allerdings auch möglich, daß meine Tante und Richard sich am selben Ort aufhalten würden, nämlich auf dem Anwesen der Kayamas, dem Garten der Steine.
Darüber dachte ich nach, während ich die Kommode öffnete, in der ich meine alten Kimonos aufbewahrte. Ich besaß mehr als zwanzig Stück, alle nicht nach modischen Gesichtspunkten ausgewählt, sondern wegen ihres kunsthandwerklichen Werts. Einige davon waren mit einer besonderen Batiktechnik hergestellt, andere mit zarten organischen Farben gefärbt. Die meisten allerdings waren für die Kayamas nicht festlich genug. Ich holte Schicht um Schicht Seide aus der Kommode und reduzierte die Auswahl, bis nur noch ein paar Kimonos in zarten Frühlingsfarben vor mir lagen.
Ich probierte die Kimonos über der Pyjamahose an, die ich bereits trug. Das Fest würde am Abend stattfinden, also wollte ich sicher sein, daß die Farbe des Kimono leuchtend genug war, um in der Dunkelheit nicht unterzugehen.
Ich hatte mich gerade für einen zartrosafarbenen Kimono mit kleinen grünen Blättern entschieden und wollte ausprobieren, welcher obi am besten dazu paßte, als es klingelte. Ich schob den Papierschirm am Fenster ein wenig beiseite. Wer vor der Tür stand, konnte ich nicht sehen, aber ich erkannte den Range Rover, der die Straße blockierte.
Ich hatte keine Lust, Takeo zu sehen, schon gar nicht unvollständig bekleidet wie eine Kurtisane, also rief ich ihm durch die Tür zu, er solle sich eine Minute gedulden. Dann begann ich, die Schärpe zu lockern, die ich mir um die Taille gebunden hatte, knöpfte die Bluse bis obenhin zu und strich mir die Haare glatt, bevor ich die Tür öffnete.
Doch draußen wartete nicht Takeo, sondern seine Schwester Natsumi.
»Haben Sie geschlafen?« fragte Natsumi mit einem kritischen Blick. Erst jetzt merkte ich, daß ich zu der Bluse immer noch die Pyjamahose trug, meine übliche Hauskleidung am Abend. Natsumi hingegen war in einen glänzenden Lackledermantel mit dazu passender Hose gewandet, hatte Schuhe von Gucci an den Füßen und auf dem Kopf ein schwarz-goldenes Hütchen, das ein wenig an eine Polizeimütze erinnerte. Sie sah aus wie die Angehörige einer Spezialeinheit oder eine Domina.
»Nun, man könnte sagen, ich habe mich gerade ein bißchen ausgeruht.« Ich versuchte, freundlicher zu wirken, als mir zumute war. Ich hatte nicht die geringste Lust, ihr zu erklären, daß meine legere Kleidung durchaus dem Ambiente entsprach, und ich wollte auch nicht, daß sie von meiner Kimono-Anprobe für das Fest ihrer Familie erfuhr. Ob Takeo sie geschickt hatte, weil er es leid war, sich selbst mit mir abzugeben? Um ein besseres Gefühl für die Situation zu bekommen, fragte ich: »Ist das da draußen Ihr Range
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