Bittere Mandeln
inneren Seiten, wo ich ein ziemlich neues Foto von Takeo und Natsumi Kayama in förmlicher Kleidung sowie einen etwa ein Jahr alten Schnappschuß von mir mit kurzen Haaren und gleichermaßen kurzem Abendkleid fand. Wie hatte ich mich damals nur so anziehen können? Das Kleid war inzwischen aus der Mode; jetzt hatte ich das Gefühl, damit fast nackt auszusehen. Da ich nicht allzuviele Schriftzeichen verstand, kehrte ich nach Yanaka zurück und schaute beim Family Mart vorbei. Der Inhaber, mein Freund Mr. Waka, hatte mit seinem ersten Laden in Nihonzutsumi so viel Erfolg gehabt, daß er nun einen zweiten in Yanaka betrieb.
»Shimura-san, wie schön, Sie zu sehen!« rief Mr. Waka mir zu, als ich durch seine makellos sauberen Glastüren trat, die mit munteren grünen und gelben Comic-Figuren geschmückt waren.
Die Family Marts waren überall in Japan gleich bunt und fröhlich und voller Comic-Hefte und guter Sachen zum Essen. Der einzige Unterschied in diesem Laden war der Inhaber, der die Hälfte der Süßigkeiten aus seinem Angebot selbst verdrückte, wenn ihm langweilig war, was seinen sanft gewölbten Bauch erklärte.
»Ach, wie wenig Anteil die Welt doch nimmt! Drei Tage lang achtete niemand auf die Kirschblüten!« sagte Mr. Waka, als ich zu ihm trat.
»Ist das wieder eins von den Kirschblütensprichwörtern?« fragte ich.
»Nein, das ist ein Haiku des Dichters Ryota. Es bedeutet, wenn man einen Kirschbaum ein paar Tage lang nicht betrachtet, verschwinden die Blüten. Und ein Mensch, den man einige Zeit nicht gesehen hat, kann sich ebenfalls sehr verändern. In den wenigen Tagen, in denen wir uns nicht begegnet sind, haben Sie dem Tod ins Antlitz geblickt.«
»Sie wissen eine Menge über die Dichtkunst«, sagte ich.
»Nun, ›Waka‹ bedeutet wörtlich ›Dichtkunst‹. Vielleicht habe ich aufgrund meines Namens eine Vorliebe für diese Form der Literatur.« Mr. Waka strahlte.
»Eigentlich wollte ich Ihnen ein paar Fragen zu einem Zeitungsartikel stellen, nicht zu Gedichten«, gestand ich und hielt ihm die Asahi Shinbun hin, die ich selbst nicht lesen konnte.
»Sie sehen nicht nur unglücklich, sondern auch hungrig aus«, sagte Mr. Waka mit sanfter Stimme. »Suchen Sie sich eine Süßigkeit aus, dann wird Ihre Laune gleich besser.«
Ich wählte eine Schachtel Pocky und kaute genüßlich die mit Schokolade überzogenen Brezeln, während Mr. Waka den Artikel für mich übersetzte. Darin hieß es, Sakura Sato, eine der besten Lehrerinnen der Kayama-Schule, sei durch Messerstiche zu Tode gekommen. Die Polizei habe den Ermittlungen oberste Priorität eingeräumt. Der Vorfall sei den Beamten von Norie Shimura, einer Ikebana-Schülerin, gemeldet worden.
»Meine Tante ist Lehrerin, nicht Schülerin«, widersprach ich.
»›Die Privatdetektivin Rei Shimura assistierte Lieutenant Hata von der Tokyo Metropolitan Police am Tatort. Die Nichte von Norie Shimura ist japanisch-amerikanischer Herkunft und hat eine Arbeitsgenehmigung für kulturelle Tätigkeit. Ihr Antiquitätenhandel hatte im vergangenen Jahr einen Umsatz von zwei Millionen Yen!‹«
Ich wußte nicht, worüber ich mich mehr ärgern sollte, darüber, daß der Artikel mich als Privatdetektivin bezeichnete, oder darüber, daß ich in meinem ersten Jahr der Selbständigkeit angeblich weniger als fünfzehntausend Dollar Umsatz gemacht hatte. In meinen Augen war das kein schlechter Anfang gewesen – immerhin machte ich keine Verluste –, aber diese geringe Summe irritierte vielleicht ein paar meiner betuchteren Kunden. Doch dann riß ich mich zusammen. Wieso machte ich mir Sorgen ums Geschäft, wenn ich in einen Mordfall verstrickt war?
»›Zeugen berichten, daß Norie und Rei Shimura außerdem vor My Magic Forest, einem schicken Blumenladen in Roppongi, in eine heftige Auseinandersetzung verwickelt waren. Weitere Einzelheiten auf der nächsten Seite.‹« Mr. Waka blätterte um. »Die Schlagzeile lautet: ›Terror vor My Magic Forest nur Vorspiel zu Mord‹.«
Die Reporter der Asahi Shinbun hatten ganze Arbeit geleistet und fast alle Anwesenden interviewt. Eine Verkäuferin von My Magic Forest erinnerte sich, daß Tante Norie und ich uns wegen einer Ikebana-Schere gestritten hatten, die Norie mit ihrer Kreditkarte erwarb. Sie habe dafür einen Stempel auf ihrer Treuekarte verlangt. Che Fujisawa, der Anführer der Stop-Killing-Flowers-Bewegung, deren Anhänger sich vor dem Laden aufgehalten hatten, behauptete, Tante Norie habe die friedlichen
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