Bittere Mandeln
gesucht.«
»Mrs. Koda war spurlos verschwunden«, sagte ich. »Meine Tante und Natsumi und Miss Okada konnten sie nirgends finden.«
»Ach, würde mir das nützen? Ich meine, daß niemand sie finden konnte?« fragte Lila sofort.
»Lila, wenn Sie in der Nähe des Sekretariats im ersten Stock waren, hat sicher ein Dutzend Sekretärinnen Sie gesehen. Das ist ein wunderbares Alibi.« Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Das hier war reine Zeitverschwendung!
»Aber es hat mich niemand gesehen! Ich bin nicht im ersten Stock gewesen, sondern oben, wo sich das Penthouse der Familie Kayama befindet.« Sie wurde rot. »Ich weiß, wo es ist, weil ich der Vereinigung ausländischer Studenten vorstehe und in dieser Funktion schon einmal zum Abendessen dort eingeladen war.«
Ich selbst hatte bis zum Vortag nicht gewußt, daß die Kayamas in dem Schulgebäude wohnten. Norie hatte mir etwas von einem hübschen Haus auf dem Land erzählt. Ich fragte Lila: »Wie kommt man in das Stockwerk mit dem Penthouse? Die Aufzugsanzeige geht doch nur bis acht.«
»Man fährt mit dem Aufzug in den achten Stock und beitritt einen kleinen Flur, der vom Vorraum abgeht. Von dort aus führt eine private Treppe nach oben.«
»Wieso dachten Sie, Mrs. Koda könnte sich in der Privatwohnung der Kayamas aufhalten? Sie ist eine Angestellte, kein Familienmitglied«, sagte ich. In dem Moment drang ein gellender Schrei in die Küche.
Lila sprang auf, und ich folgte ihr. Die Tochter, die ein paar Minuten zuvor Crackers gefordert hatte, lag auf dem Boden. Ein kleiner, vielleicht vierjähriger Junge saß auf ihr. Er bearbeitete die dünnen blonden Haare seiner Schwester mit einer Schere.
Das Bild der toten Sakura mit der Schere im Hals trat wieder vor mein geistiges Auge. Ich schnappte nach Luft. Lilas drittes Kind, ein etwa siebenjähriger Junge, wandte den Blick vom Fernseher ab und mir zu.
»Mami, du hast gesagt, wir kriegen keine japanischen Babysitter mehr!« rief er.
»Ich bin nicht aus Japan«, sagte ich und versuchte dabei, ruhig zu bleiben. »Ich spreche Englisch, genau wie du. Wir stammen vom selben Kontinent, wenn auch nicht aus demselben Land. Weißt du, woher ich komme?«
»Du bist … du mußt aus einem komischen Land sein!«
»Pscht, Donald«, bemühte Lila sich, ihn zu besänftigen, während sie versuchte, die Schere aus den Haaren ihrer Tochter zu entfernen. Erst jetzt sah ich, daß es sich um eine stumpfe Kinderschere aus Plastik handelte. Ich beruhigte mich ein wenig, aber Lila war immer noch ziemlich aus der Fassung. »Ihr seid wirklich unmöglich. Wenn ihr euch nicht benehmt, haue ich ab!«
»Das machst du doch sowieso die ganze Zeit. Aerobic, Einkaufen …«, zählte Donald in boshaftem Tonfall auf. Hatte Richard tatsächlich gesagt, es mache Spaß, mit Lilas Kindern zusammen zu sein?
»Es tut mir leid, Rei.« Lila hob nicht einmal den Blick. »Ich glaube, wir werden uns ein andermal weiter unterhalten müssen. Darcys Haare sind so zottelig, daß ich sie mit Cremespülung waschen muß. Und du, David, kriegst Zimmerarrest!«
David, der mit der Schere auf die Haare seiner Schwester losgegangen war, fing nun genauso laut zu weinen an wie seine Schwester. Donald schaltete den Fernseher unterdessen mit der Fernbedienung auf die höchste Lautstärke.
»Wann können wir uns weiter unterhalten?« brüllte ich.
»Ach, ich weiß auch nicht. Kommen Sie doch morgen zu der Ausstellung im Mitsutan. Vielleicht habe ich da ein paar Minuten Ruhe.«
Würde die Kayama-Schule die Ausstellung nach dem Tod einer ihrer besten Lehrerinnen tatsächlich am Freitag eröffnen? Mir erschien das ein bißchen pietätlos.
Als ich Roppongi Hills verließ, waren zu meinen alten, verstörenden Erinnerungen noch ein paar neue hinzugekommen.
5
Ich wählte die Nummer von Tante Norie in Yokohama, aber sie ging nicht selbst ran.
Der Anrufbeantworter bat mich mit ihrer sanften Stimme, eine Nachricht zu hinterlassen. Das tat ich und verbrachte den restlichen Nachmittag bei einer Auktion, wo ich an Tischen mit alten Drucken vorbeischlenderte. Doch ich war zu unkonzentriert, um mitzubieten. Nach ein paar Stunden verließ ich das Auktionshaus und trat hinaus auf die Straße. An einem Zeitungskiosk sah ich auf der ersten Seite der Asahi Shinbun eine Porträtaufnahme von Sakura und gleich darunter ein Bild von Tante Norie, das sie neben dem besten Blumenarrangement einer Ausstellung des Jahres 1996 zeigte. Die Fortsetzung des Artikels befand sich auf einer der
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