Bittere Mandeln
nicht anrufen würde. Denn wenn ich das tat, würde ich etwas von Tante Nories und meinen Problemen erwähnen müssen, und das würde nur wieder zu der drängenden Bitte führen, ich solle doch nach Hause kommen. So war meine Mutter eben.
Ich schlug eine neue Seite meines Notizblocks auf und schrieb darauf: »Zur Zeit des Mordes in der Kayama-Schule Anwesende.« Lila Braithwaite und ihre Freundin Nadine St. Giles; Mari Kumamori, die Töpferin, zu der Sakura so unhöflich gewesen war; Eriko, Tante Nories beste Freundin. Dann waren da noch Takeo und Natsumi Kayama sowie Miss Okada, die Dame an der Rezeption, ferner ein paar andere Japanerinnen, deren Namen ich von meiner Tante erfragen konnte.
Unter der Überschrift »Abwesend« verzeichnete ich Mrs. Koda und Masanobu Kayama, den Leiter der Schule.
Lieutenant Hata hatte vermutlich eine ganz ähnliche Liste angelegt. Vielleicht hatte er alle Namen auf dieser Liste bereits gestrichen und suchte nach einem Serienkiller. – Allerdings hatte es in der japanischen Geschichte nur sehr wenige Serienkiller gegeben.
Ich sah Mrs. Moritas neun blau-weiße Teller an. Sie befanden sich nun in einer Küchen -tansu, die die ganze Wand einnahm. Jedes Fach der Kommode hatte eine eigene Tür mit einem kleinen Geländer, das das Porzellan bei einem Erdbeben am Herausfallen hinderte. Wie lange würden die Teller wohl in meiner Obhut bleiben?
Ich legte den Notizblock weg und wählte die Nummer meiner Tante, obwohl ich bezweifelte, daß ich sie erreichen würde. Sofort meldete sich der Anrufbeantworter, doch als ich meinen Namen nannte, hörte ich Tante Nories Stimme.
»Danke, daß du so oft angerufen hast, Rei -chan. « Sie klang müde.
»Wie stehen die Dinge in Yokohama?«
»Die Reporter belagern das Haus«, flüsterte sie, als könnte man sie draußen hören. »Es ist schrecklich. Einer hat sogar einen Futon mitgebracht und auf der Straße übernachtet! Sie warten darauf, daß ich herauskomme. Hiroshi wollte morgen aus Osaka zurückkehren, aber ich habe ihm gesagt, er soll’s lieber nicht tun. Sind bei dir auch so viele Leute von der Presse?«
»Nein, hier ist die Luft rein.« Draußen vor meinem Haus sah ich ein paar betrunkene Studenten die Straße hinunterwanken, doch ansonsten war sie menschenleer. Wieder einmal war ich froh darüber, daß ich meine Nummer nicht ins NTT-Telefonbuch hatte eintragen lassen, um mich vor eventuellen obszönen Anrufen zu schützen. Die einzige Konzession an mein Geschäft war meine Faxnummer für Rei Shimura Antiquitäten. Auf diesem Weg wurde ich schon genug belästigt. Heute hatte ich allein acht Werbe-Faxe erhalten und irgendwann entnervt das Gerät ausgeschaltet.
»Warum kommst du nicht zu mir?« schlug ich meiner Tante vor. »Ich stehe nicht im Telefonbuch. Und ich habe einen Gästefuton.«
»Wenn man Probleme hat, sollte man Zuflucht unter einem großen Baum suchen, nicht unter einem Sämling«, sagte Norie. »Außerdem würden mir die Leute von der Presse sofort folgen. Das werden sie morgen ohnehin tun, denn morgen muß ich bei der Vorbereitung der Ausstellung im Mitsutan helfen.«
»Keine besonders gute Idee«, sagte ich.
»Wir müssen hin. Es gibt dort einen drei Meter langen auf den Namen Shimura reservierten Platz. Nicht zu erscheinen, wäre eine Schande.«
»Wir? Ich würde dein Gesteck nur ruinieren. Hast du vergessen, was Sakura über meine Fähigkeiten gesagt hat?«
Jetzt sprach meine Tante in jenem einschmeichelnden Ton, den sie immer benutzte, wenn ich für ihre Freunde einen Kimono anziehen sollte. »Wenn wir uns vor den anderen verstecken, machen wir uns verdächtig. Das wäre wie ein Schuldeingeständnis. Wir müssen Stolz zeigen, wie es die Shimuras seit Jahrhunderten tun. Heute tragen viele Leute in Japan unseren Familiennamen, aber du solltest nicht vergessen, daß mein Mann und dein Vater Nachkommen einer einflußreichen Familie sind. Wir müssen den Namen dieser Familie hochhalten.«
Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, Tante Norie zu mir einzuladen. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie sie mir Vorträge über meine Samurai-Vorfahren halten würde.
»Tante Norie, du weißt, wie gern ich dich habe. Wenn es wirklich so wichtig ist, helfe ich dir natürlich bei dem Gesteck im Mitsutan.«
»Es dauert nur ein paar Stunden«, sagte sie. Zum erstenmal klang sie zufrieden. »Alle dort werden das zu schätzen wissen. Und … ich auch.«
Dann legten wir auf, und ich machte mich ans Abendessen: Ein
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