Bittere Mandeln
geschlafen«, sagte ich.
»Überlaß die Sache ihm«, sagte Norie. »Er hat mehr Möglichkeiten als du, und es ist gefährlich, den Kayamas zu nahe zu kommen. Ich spreche aus Erfahrung.«
»Was ist zwischen dir und den Kayamas eigentlich vorgefallen? Erzähl es mir.«
»Wasser spült alles fort«, sagte Norie. Das war eines ihrer Lieblingssprichwörter. Es bedeutete, daß es besser war zu vergeben und zu vergessen. »Apropos Wasser: Möchtest du vor dem Frühstück baden? Dann könnte ich inzwischen das okayu zubereiten.«
Beim Verzehr der letzten Breireste versuchte ich Norie zu entlocken, was mit den Kayamas gewesen war, doch ich konnte sie nicht zum Sprechen bewegen. Sie wollte lieber von Onkel Hiroshi erzählen, der nun endlich aus Osaka kommen würde. Es fiel mir schwer, das Durchhaltevermögen der tanshin funin zu begreifen – Ehemänner, die auf Anweisung ihres Chefs weit von ihrem Heimatort entfernt arbeiteten, aber ihre Familie nicht mitnahmen. Norie war eine Woche zuvor unversehens in einen Mordfall hineingestolpert, doch Hiroshi hatte nicht kommen können, um ihr beizustehen. Aber besser, er tauchte jetzt noch auf als überhaupt nicht.
In der japanischen Presse hieß es, meine Generation habe eine andere Einstellung zur Arbeit, aber das bezweifelte ich. Während meiner U-Bahn-Fahrt mit der Hibiya-Linie nach Roppongi sah ich mir einige der jungen attraktiven Geschäftsmänner ein bißchen genauer an. Schon früher hatte ich einen bestimmten Hibiya-Linie-Typ ausgemacht: junge Männer mit hervorstehenden Wangenknochen und nach hinten gegeltem Haar, die europäisch geschnittene Anzüge trugen. Wenn sie saßen, wippten sie leicht mit den Budapestern an ihrem Fuß. Es war ein Naturgesetz, daß ein solcher HLT in der U-Bahn nie stehen mußte. Ich beobachtete einen etwas über Zwanzigjährigen, der genau meiner Beschreibung entsprach, wie er sich mir gegenüber hinsetzte und den positiven Eindruck zerstörte, den ich von ihm hatte, indem er die neueste Ausgabe von Jump aufschlug. Nein, mit einem erwachsenen Mann, der Kinder-Comics las, würde ich mich nicht einlassen. Tut mir leid, sagte ich in Gedanken zu dem HLT, mit uns beiden läuft nichts.
Takeo Kayama wohnte nur ein paar Gehminuten von der Hibiya-Linie entfernt, aber er gehörte nicht zu dieser Kategorie. Zwar war er groß und schlank, doch er trug die Haare lang, nicht wie ein HLT. Auch seine Jeans und T-Shirts paßten nicht ins Bild. Sogar der Anzug, den er am Tag von Sakuras Tod angehabt hatte, war zerknittert gewesen. Außerdem hatten HLTs feste Jobs. Takeo hingegen war nur eine Marionette im Kayama-Imperium und kassierte Geld von Schülern und Lehrern. Nein, Takeo Kayama war nicht mein Typ.
Du lügst, sagte die Stimme in meinem Innern. Um sie zum Schweigen zu bringen, starrte ich den gutaussehenden jungen Mann, der Jump las, noch intensiver an. Offenbar spürte er meinen Blick, denn irgendwann schaute er hoch. Und er zischte mir ein einziges Wort zu: » Hentai. « Das bedeutete so viel wie »Perverser«.
Er fühlte sich sexuell belästigt! Ich hätte nicht kichern sollen, konnte es mir aber nicht verkneifen. Ich hielt die Hand vor den Mund und blickte auf meine Knie hinunter, bis ich die Kamiyacho-Station erreichte. Dann verließ ich den Wagen, ohne den armen belästigten Geschäftsmann noch eines Blickes zu würdigen.
Ishida Antiques befand sich auf dem Familienanwesen der Ishidas, wo mein fünfundsiebzig Jahre alter Freund Yasushi Ishida zur Welt gekommen war. Seit dem Zweiten Weltkrieg war das Gebäude alle zehn oder zwanzig Jahre vollständig renoviert worden, so daß es sich allmählich von einem Holzhaus ähnlich dem meinen in Yanaka in einen mit Stuck verzierten Kasten verwandelt hatte, der den Nachbarläden glich. Mr. Ishida wohnte allein im Obergeschoß; das untere diente als vollgestellter Ausstellungsraum für alte Möbel. Das einzige unverkäufliche Stück war ein Miniaturschrein über der Tür, der mit winzigen Gebetsstreifen aus Papier sowie dem Fruchtopfer für Mr. Ishidas tote Eltern, einem duftenden Pfirsich, geschmückt war. Die Frucht wurde täglich gewechselt, so daß sie immer frisch duftete.
Heute war eine Kundin in Mr. Ishidas Laden, eine elegante Japanerin Ende Fünfzig, vielleicht die Mutter eines HLT. Mr. Ishida gab mir mit einem Blick zu verstehen, daß ich mich im Geschäft umsehen solle, während er den Verkauf zum Abschluß brachte.
In Mr. Ishidas Laden war das gleiche Kirschblütenfieber zu spüren wie
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