Bittere Mandeln
Bäume und kam zu dem Schluß, daß Mrs. Kodas Tisch zwar nicht schlecht positioniert war, aber dennoch ihren Niedergang innerhalb der Schule widerspiegelte. Wäre sie tatsächlich mit leitenden Funktionen betraut gewesen, hätte ihr Schreibtisch in der Mitte des Raumes gestanden, damit sie ihren Untergebenen Anweisungen geben konnte. Sakuras Schreibtisch war mitten im Raum – sie war also die Königin im Volk der Bienen gewesen.
Die Polizei hatte Sakuras Schreibtisch bereits durchsucht. Ich bemerkte den dicken schwarzen Puder auf der Edelstahloberfläche und den Schubladengriffen, der vermutlich dazu gedient hatte, Fingerabdrücke zu nehmen.
Dann betrachtete ich Mrs. Kodas Tisch aus einem anderen Blickwinkel. Dabei fiel mir ein leichter Schatten auf, eine Lücke zwischen der Kante der obersten Schublade und dem Tisch. Die Schublade stand offen.
Konnte ich die Schublade nicht noch ein bißchen weiter aufziehen? Das hieß ja nicht, daß ich den Schreibtisch aufbrach; ich sah ihn mir nur genauer an. Ich würde bloß nachschauen, ob sich ein Adreßbuch darin befand, sofort das »K« aufschlagen und überprüfen, ob ich irgend etwas über die mysteriöse Mrs. Kayama finden konnte.
Die Schublade öffnete sich geräuschlos, und mein Blick fiel auf ein paar schmale Notizhefte, eine Schachtel mit Füllern, eine mit Bleistiften sowie eine Packung Papiertaschentücher. Keine Spur von einem Adreßbuch. Ich schlug die beiden Notizhefte auf und mußte feststellen, daß ich bis auf ein paar Blumennamen und Tokioter Ortsbezeichnungen nichts lesen konnte. Eine Namensliste der Lehrer und ihrer Adressen war sowohl auf englisch als auch mit kanji- Zeichen notiert. Weil es möglicherweise interessant sein würde, die Liste später noch einmal durchzugehen, ging ich zum Fotokopierer. Er war ausgeschaltet. Als ich auf den Knopf drückte, erwachte er mit einem erschreckend lauten Geräusch zum Leben. Ich hoffte nur, daß sich außer mir niemand im ersten Stock aufhielt.
Das Gerät war ziemlich langsam. Als ich die Liste fertig kopiert hatte, zeigte die Uhr an der Wand zehn vor zwei. Bald wäre die Ikebana-Stunde für die Angestellten vorbei.
Ich kehrte mit dem Notizheft zu Mrs. Kodas Schreibtisch zurück. Als ich es wieder in die Schublade schob, merkte ich, daß ich schwarzen Puder an den Griff gebracht hatte. Offenbar war ich an Sakuras Tisch entlanggewischt. Ich nahm eines von Mrs. Kodas Papiertaschentüchern, um den Griff abzureiben, und stieß dabei gegen ein kleines orangefarbenes Plastikfläschchen, wie es für Arzneimittel verwendet wird. Mit dem Taschentuch in der Hand holte ich es heraus. Auf dem Etikett stand MOTRIN 800 MG. Schon seltsam, daß das gleiche Medikament, das mir bei gelegentlichen Krämpfen half, auch die Arthritis einer älteren Frau lindern konnte.
Der Deckel war halb offen – in Japan sind kindersichere Verschlüsse nicht gesetzlich vorgeschrieben –, und eine Tablette fiel mir in die Hand. Sie war klein und weiß, mit dem aufgeprägten Gesicht einer Frau. Möglicherweise sahen Motrin-Tabletten ja inzwischen anders aus, das Frauengesicht kannte ich jedenfalls nicht. Ich drehte die Tablette um, und tatsächlich: Da stand NOLVADEX 600.
Also schluckte Mrs. Koda stärkere Medikamente, bewahrte sie aber in einem Motrin-Fläschchen auf. Oder war es für jemand anderen bestimmt?
Auf Sakura war genau wie auf mich ein Giftanschlag verübt worden. Lieutenant Hata hatte mir gesagt, daß es sich bei dem Gift um Arsen handelte. Als ich die kleine Tablette mit dem Frauengesicht anstarrte, spürte ich die gleiche Übelkeit in mir hochsteigen wie bei der Ikebana-Ausstellung im Mitsutan-Kaufhaus. Welche Inhaltsstoffe hatte Nolvadex? War eine Überdosis tödlich?
Ich wickelte ein frisches Taschentuch um die Tablette und steckte alles in die Tasche meines Regenmantels. Dann schob ich die Schublade zu, wischte die letzten Spuren des schwarzen Puders weg und schaltete den Fotokopierer aus. Vor dem Verlassen des Raumes warf ich das benutzte Taschentuch in einen geschlossenen Abfalleimer mit der englischen Aufschrift LET’S ENJOY RECYCLE. War das Takeos Werk? Wenn ja, hätte er sich wenigstens die Mühe machen können, das fehlerhafte Englisch zu korrigieren. Ich trat hinaus ins Treppenhaus. Da hörte ich Schritte. Außer mir benutzte offenbar noch jemand die Treppe.
Ich fing an zu laufen und nahm dabei eine Kurve so eng, daß ein paar Stengel meiner Blumen sich im Geländer verfingen. Sie fielen herunter, doch ich
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