Bittere Mandeln
hatte keine Zeit, sie wieder aufzuheben. Wenig später erreichte ich das Foyer des Gebäudes.
Wieder hielt ich mir die Blumen vors Gesicht und ging in Richtung Tür.
»Entschuldigen Sie, Madam, aber wir müssen Ihre Taschen durchsuchen«, hielt mich der Portier auf. Hinter den Blumen hervor murmelte ich: »Sie meinen meine Blumen? Ich habe sie noch gar nicht ausgewickelt. Wissen Sie, ich dachte, heute nachmittag ist Kurs.«
»Nein, nur Ihren Rucksack. Es tut mir leid, wenn ich Ihnen Unannehmlichkeiten bereite, aber diese Durchsuchungen sind Teil unseres neuen Sicherheitssystems.« Ich legte meinen Rucksack und die eingewickelten Blumen auf den hochglanzpolierten Walnußholztisch.
»Ach, Sie sind’s, Shimura-san! Sind Sie wieder gesund?« Miss Okada kam hinter ihrer Rezeption hervor, um mich zu begrüßen.
»Ja. Wie Sie sehen, bin ich schon wieder auf den Beinen, aber ich habe die Kurszeiten völlig durcheinandergebracht!« Dabei beobachtete ich den Portier, der sich langsam und systematisch durch meinen Rucksack arbeitete. Ich hoffte nur, daß er die vom Kopieren noch warme Liste mit den Lehrernamen zwischen den Seiten der Japan Times nicht entdeckte.
»Darf ich Ihnen diese Blumen geben?« fragte ich völlig unvermittelt Miss Okada, um sie dazu zu bringen, daß sie mich ansah und nicht das Durcheinander, das der Portier aus meinem Rucksack holte. »Ich wollte ins Sekretariat, um sie Mrs. Koda zu schenken, doch sie war nicht da.«
Miss Okada nickte geistesabwesend, beobachtete aber weiter den Portier. Ich folgte ihrem Blick. Der Portier öffnete gerade die Schachtel mit dem Ikebana-Gefäß. Nachdem er das suiban herausgenommen hatte, packte er es wieder ein.
»Augenblick«, sagte Miss Okada. »Könnte ich mir das Stück genauer ansehen?«
»Aber sicher«, sagte ich, obwohl nicht klar war, ob sie mich um Erlaubnis fragte oder den Portier.
Sie drehte das Gefäß sofort um und betrachtete das Kayama-Siegel auf der Unterseite. »Das ist ja Kayama-Keramik!«
»Ja, stimmt. Ich wollte sie jemandem hier im Haus zeigen – Natsumi-san.«
»Sie ist heute nicht hier. Setzen Sie sich doch einen Moment, Miss Shimura, dann rufe ich Mrs. Koda. Die wird Ihnen sicher helfen.«
Ich nahm auf einer Bank aus Edelstahl Platz und starrte das Wahrzeichen der Kayama-Schule, eine massive Sandsteinskulptur, an. Wäre ich doch bei einer Ausrede für meinen Aufenthalt in dem Gebäude geblieben, statt mir drei verschiedene auszudenken. Jetzt war es an Mrs. Koda, die Wahrheit herauszufinden. Vielleicht würde sie sofort zu ihrem Tisch hasten, die Tabletten in ihrem Arzneimittelfläschchen zählen und merken, daß ich eine herausgenommen hatte. Wenn nicht, würde sie sicher das mit schwarzem Puder verschmierte Taschentuch in dem Abfalleimer entdecken oder spüren, daß der Fotokopierer noch warm war. Oder litt ich unter Paranoia?
Miss Okada telefonierte immer noch, ohne den Blick von mir zu wenden. Dann verbeugte sie sich leicht, um das Ende des Gesprächs zu signalisieren, und wählte eine andere Nummer. Sie ließ mich die ganze Zeit nicht aus den Augen. Ich hingegen gab vor, ganz in den Anblick der Sandsteinskulptur versunken zu sein.
Nach fünf langen Minuten kam Mrs. Koda mit dem Aufzug herunter. Sie trug einen Rock und einen Pullover und darüber eine klassische wattierte Jacke. Mit ihrer ein wenig gebeugten Haltung wirkte sie wie eine freundliche Großmutter aus einem japanischen Märchen. Sie lächelte mir zu und verneigte sich, kam aber nicht näher. Statt dessen widmete sie ihre Aufmerksamkeit dem suiban, das Miss Okada auf der Rezeption abgestellt hatte, also genau dort, wo Norie die Ikebana-Schere hingelegt hatte, damit Miss Okada sie als Geschenk verpackte.
Mrs. Kodas Augen strahlten, und sie lächelte, als sie beim Umdrehen des suiban den Stempel entdeckte. Sie sagte etwas zu Miss Okada, das ich nicht verstehen konnte, bevor sie zu mir herüberkam.
»Bitte!« Ich sprang sofort auf und bot ihr meinen Platz auf der Bank an.
»Es ist genug Platz für uns beide«, sagte sie. »Als erstes möchte ich mich für Ihren freundlichen Brief bedanken. Es hat mir so leid getan, daß Sie während der Ausstellung krank wurden. Schließlich war es meine Idee, den Tee zu trinken! Aber ich hätte nie gedacht, daß er vergiftet ist.«
»Das Gift war im Zucker, nicht im Tee, also war meine Liebe zu Süßem schuld an der ganzen Sache.« Normalerweise konnte ich den ständigen gegenseitigen Entschuldigungen, die Teil der japanischen
Weitere Kostenlose Bücher