Bittere Mandeln
Schließknopf zu drücken und irgendwo auf halber Höhe auszusteigen, um die Treppe runterzulaufen? Aber Sie würden nur wieder dem Portier in die Arme laufen, der Sie ohne meine Erlaubnis nicht gehen lassen würde!«
»Vorausgesetzt, ich benütze denselben Ausgang.« Ich trat vor ihm aus dem Aufzug. »Aber in einem Gebäude dieser Größe muß es schon aus feuerpolizeilichen Gründen mehr als eine Treppe und mehr als einen Ausgang ins Freie geben. Es existieren also noch andere Wege durch das Gebäude, die nur nicht so gut ausgeschildert sind.«
»Das stimmt«, sagte er, als er mir aus dem Aufzug folgte. »Zum Beispiel werden Sie jetzt gleich den Weg zu meinem Büro kennenlernen.«
»Befindet sich Ihr Büro in der Wohnung der Familie? Es gibt eine Treppe, die man über einen kleineren Flur erreichen kann …«
»Ich wohne auf dem Land, nicht hier.« Er sah mich an. »Gehen Sie nach links. Es ist die fünfte Tür.«
Dieser Teil des Gebäudes war eleganter als das zweckmäßig eingerichtete Sekretariat im ersten Stock und die kargen, sonnenhellen Unterrichtsräume im dritten. Die Wände des Flurs hier oben waren in tiefem Zinnoberrot gehalten und mit winzigen Spotlights geschmückt, die kleine gerahmte Gemälde anstrahlten. Ich erkannte eines des japanischen Künstlers Yayoi Kusama und entdeckte ein kleines gestreiftes Bild, das nach Mark Rothko aussah. War das möglich? Ich blieb wie angewurzelt stehen.
»Ja, das ist ein Rothko«, sagte Takeo. »Es wundert mich, daß Sie ihn nicht mitgenommen haben.«
»Wie bitte?« Ich ging weiter.
»Machen Sie mir nichts vor. Sie kennen sich doch bestens aus in diesem Teil des Gebäudes.«
»Eine andere Schülerin hat mir von diesem Weg zu Ihrer Wohnung erzählt. Sie war einmal hier oben zum Essen eingeladen.«
»Lila Braithwaite«, sagte er mit tonloser Stimme, während er eine unauffällige Tür öffnete. Ich betrat einen Raum, der nach seinem Büro aussah. Ich hatte nicht den Eindruck, daß mir hier etwas zustoßen könnte, denn schließlich wußten Mrs. Koda, Miss Okada und der Portier, daß ich mich in diesem chaotischen Büro mit gerahmten Fotos von Unkräutern und Wildblumen, einem Schreibtisch mit Computer und Sesseln mit zerschlissenen braunen Baumwollpolstern aufhielt. Die Ausstattung des Raums war das genaue Gegenteil des kargen, minimalistischen Stils, der sonst im Kayama-Kaikan-Gebäude vorherrschte.
Takeo nahm einen Stapel National Geographics von einem der Sessel und bedeutete mir, darauf Platz zu nehmen. Ich tat ihm den Gefallen und versank tief in dem wohl schon seit dreißig Jahren durchgesessenen Möbel.
»Sie und ich, wir haben etwas gemein. Ich kaufe auch alte Möbel«, sagte ich, unfähig, meine Belustigung zu verbergen. »Welchen der sonntäglichen Flohmärkte vor den Schreinen besuchen Sie am liebsten?«
Takeos Stimme hob sich eine Oktave. »Die Möbel sind nicht vom Flohmarkt! Sie sind aus dem Haus, in dem meine Familie früher gelebt hat. Die Stühle standen im Zimmer meiner Mutter.«
Wieder einmal hatte meine amerikanische Direktheit mich in Schwierigkeiten gebracht. Es war mir schrecklich peinlich, daß ich mich abfällig über seine Familienerbstücke geäußert hatte.
»Außerdem sind Sie nicht hier, um den Wert der Möbel zu schätzen. Mich würde viel mehr interessieren, was Sie über den Inhalt Ihres Rucksacks zu sagen haben.«
»Sie meinen wohl einen bestimmten Gegenstand, nicht wahr?«
»Sie hatten ein Ikebana-Gefäß bei sich, das in den dreißiger Jahren für unsere Schule gefertigt wurde. Davon wurden insgesamt nur tausend Exemplare hergestellt. Heutzutage eines davon aufzuspüren, ist ziemlich schwierig«, sagte Takeo.
»Das hat Mrs. Koda mir auch gesagt.« Es würde Mr. Ishida freuen, das zu hören.
Takeo schwang die Beine über die Armlehnen seines Sessels, als habe er vor, eine Weile hier zu bleiben. »Von den produzierten eintausend Gefäßen waren je zweihundert vom selben Typ, das heißt also fünf Stück pro Typ. Manche von ihnen erhielten Lehrer als Geschenk, andere wurden in der Schule verwendet. Einige sind natürlich auch im täglichen Gebrauch kaputt gegangen oder verschwunden.«
Ich starrte die rötliche Erde an den Sohlen seiner Frye-Stiefel an und fragte mich, warum sie in Japan immer noch der Hit waren, wo diese Mode sich in den Vereinigten Staaten doch schon längst überlebt hatte.
»Dann kam der Krieg, und die Militärregierung hat viele unserer Sachen beschlagnahmt. Metallgefäße wurden zu Munition
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