Bittere Mandeln
Zeitschriften lagen jetzt auf einem ordentlichen Stapel, und auf dem Schreibtisch stand ein kleines Kamelien-Gesteck mit angefressenen Blättern.
»Das ist das Foto«, sagte Takeo und hielt mir ein Bild seiner Mutter hin, die darauf mit ihm und Natsumi zu sehen war, als diese ungefähr vier Jahre alt waren. Reiko Kayama trug einen gelb-orangefarbenen Kimono mit einem Muster aus Monden und Sternen, genau wie die Frau bei Mr. Ishida.
»Das sollte Mr. Ishida sehen«, sagte ich. »Darf ich es mir ausleihen und ihm zeigen?«
»Er hat eine Verletzung am Auge, Rei. Haben Sie das schon vergessen?«
»Ja, aber nur an einem. Mit dem anderen kann er wunderbar sehen. Wenn es ihm wieder besser geht, kann er uns sicher sagen, ob die Frau in seinem Laden und Ihre Mutter ein und dieselbe Person sind.«
»Ich kann Ihnen den Abzug nicht geben. Es ist der einzige, den ich habe«, sagte Takeo.
»Ich passe gut darauf auf«, sagte ich. »Ich habe noch nie etwas verloren, das mir jemand zur Aufbewahrung gegeben hat.«
»Tja, ich schon. Tut mir leid, aber die Kayama-Keramik, die Sie mir heute abend gegeben haben, ist kaputt gegangen, als ich mit dem Wagen gegen den Laternenpfahl geknallt bin. Ich war zu niedergeschlagen, um die Scherben aus dem Range Rover zu holen.«
Das konnte ich ihm nachfühlen, aber andererseits hatten wir noch eine Menge zu erledigen. »Zeigen Sie mir die Schriftrolle Ihrer Mutter mit der Kalligraphie?«
Takeo schob die Sachen, die noch auf seinem Schreibtisch lagen, weg und breitete die Schriftrolle aus. Die Enden beschwerte er mit jeweils einem kenzan- Blumenigel. Ich sah mir zusammen mit ihm Reiko Kayamas Interpretation des Gedichts der inmitten von Gartennelken Schlummernden an. Ihre Kalligraphie war anmutig gerundet und ganz ähnlich der Schrift auf dem Haiku-Brief, den ich erhalten hatte. Doch die Schriftrolle selbst wirkte anders. Wo genau die Unterschiede lagen, würde ich allerdings nie herausfinden, weil Tante Norie den Brief vernichtet hatte.
»Ich habe den Brief mit dem Haiku nicht mehr, aber ich bin mir ziemlich sicher, daß er nicht von Ihrer Mutter stammt. Sehen Sie sich einmal das zweite Schreiben an.« Ich holte das Gedicht aus der Tasche, das ich eben erst erhalten hatte und in dem es um ein hübsches Mädchen ging, das gestoßen wurde.
Takeo las es schweigend. Ich sah, wie er dabei zu zittern anfing.
»Was ist?« fragte ich.
»Mir ist bloß ein bißchen kalt.«
»Haben Sie auch Proben von der Handschrift Ihrer Mutter?« Ich betrachtete immer noch die Schriftrolle, auf der sich abgesehen von den drei kurzen Zeilen ein kleines Aquarell mit einer rosafarbenen Blüte auf einem Bett aus grauen Flußkieseln befand.
Takeo schüttelte den Kopf. »Sie war nie von uns getrennt, also hat sie uns auch nie geschrieben. Wahrscheinlich hat mein Vater ein paar Briefe von ihr, aber den kann ich nicht fragen. Dazu stehen wir uns nicht nahe genug.« Dann fügte er hinzu: »Ihre Tante könnte etwas von meiner Mutter haben.«
»Tante Norie war eine ganz normale Schülerin der Schule. Wieso sollte Ihre Mutter ihr Briefe schreiben?«
Takeo ließ sich in einen Sessel sinken. Wieder wurde mir bewußt, daß er gerade erst einen Unfall gehabt hatte. Er schwieg eine Weile und meinte dann: »Sie erinnern sich doch sicher noch, wie wir in dem izakaya zusammen ein Bier getrunken haben? Dort habe ich Sie gebeten, mir etwas über Ihre Tante zu erzählen. Damals haben Sie offenbar gedacht, ich verdächtige sie des Mordes an Sakura. Aber das war es nicht. Mich interessiert, wie Ihre Tante zu meiner Mutter stand.«
»Warum?«
»Das Verhältnis zwischen Ihrer Tante und einigen Leuten in der Schule war angespannt. Es gab Gerüchte, daß sie ihre Lehrerdiplome schneller bekommen hat als alle anderen, daß sie bei Ausstellungen immer den besten Platz erhielt und daß man ihr sogar eine gute Lehrerstelle hier in der Schule angeboten hat.«
»Aber das Angebot hat sie nie angenommen«, sagte ich mit einem leichten Frösteln. »Sie hat mit dem Ikebana aufgehört, um nach der Geburt meiner Cousine Chika mehr Zeit zu haben.«
»Wie alt ist Chika?«
Ich mußte nachdenken, denn ich hatte Toms kleine Schwester, die in Kyoto studierte, in den letzten paar Jahren nur ein- oder zweimal gesehen. »Sie ist dreiundzwanzig.«
»Was für ein interessanter Zufall. Meine Mutter ist vor dreiundzwanzig Jahren gestorben«, sagte Takeo. »Chikas Geburt war ein guter Vorwand für Nories Rückzug. Sakura hat einmal angedeutet, daß
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