Bittere Pille
Haaren und blauer
Brille rausgekommen und hatte sich angehört, was sie zu sagen
hatte. Es war ihm nicht möglich gewesen, sie unter
Personenschutz zu stellen. Nach dem Besitzer des Wagens, der sie
verfolgte, hatte er eine Fahndung einleiten lassen. Die Akte des
verstorbenen Patienten hatte er an sich genommen und ihr
versprochen, mit den darin enthaltenen Informationen einen Fachmann
im Präsidium zu betrauen. Doch davon hatte Danni nicht
sonderlich viel. Die Angst vor dem unheimlichen Verfolger war
geblieben.
»Die personelle
Situation ist dramatisch, ich habe keine Leute, verstehen
Sie?«
Natürlich hatte
sie verstanden. Sie war ja nicht blöd. Und trotzdem
fühlte sie sich nicht wohl in ihrer Haut. Kommissar Ulbricht
war nach etwas mehr als fünf Minuten wieder verschwunden.
Immer wieder blickte sie sich ängstlich um. Niemand verfolgte
sie. Hatte die Fahndung schon etwas gebracht, und man hatte den
Verfolger geschnappt und zur Rede gestellt? Sicher fühlte sie
sich trotzdem nicht. Sie betrat den Bahnsteig der
Schwebebahnstation. Ein paar wartende Fahrgäste marschierten
auf und ab oder hockten auf den Bänken der
Station.
Ausdruckslose Mienen,
Wartegesichter.
Niemand interessierte
sich für sie. Es dauerte keine zwei Minuten, bis die
orange-blaue Bahn mit einem leisen Surren in die Station einlief.
Im Fahrerstand ein gelangweilt dreinblickender Fahrer. Die vier
Türenpaare glitten ratternd zur Seite und spuckten
Fahrgäste aus. In der Bahn Mief. Sie bestieg den leicht am
Gerüst schwankenden Zug und ergatterte
einen der cremefarbenen Plastikschalensitze hinter dem Fahrer.
Warten. Dann schlossen sich die Türen, und die Bahn fuhr an.
Jetzt lag die Wupper unter der Bahn. Früher, in der Schule,
hatte sie gelernt, dass man die Wupper, die sich über rund
hundertfünfzehn Kilometer Länge erstreckte, bevor sie bei
Leverkusen in der Rhein mündete, früher auch als den
»schwarzen« oder den »bunten« Fluss
bezeichnet hatte. Dies war zum einen auf die zunehmende Anzahl der
Haushalte, die sich am Flusslauf ansiedelten,
zurückzuführen gewesen. Die Hauptursache waren jedoch die
zahlreichen Textilfärbereien gewesen, die ihr Abwasser
ungeklärt in den Fluss abgeleitet hatten. Damals waren
Begriffe wie Wasser- oder Naturschutz völlig unbekannt
gewesen, und so war es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis am
Anfang des neunzehnten Jahrhunderts die Fischerei in der Wupper der
Vergangenheit angehörte. Inzwischen gab es scharfe
Umweltschutzvorgaben für Industriebetriebe, die am Ufer lagen,
und der Fluss lebte heute wieder. Neben fast dreißig anderen
Fischarten tummelten sich heute wieder Aale, Lachse und
Bachforellen in der Wupper, und der natürliche Fischfeind der
heutigen Zeit war der Graureiher, der sich ab und zu mit
majestätischen Flügelschwingen und lebendiger Beute im
Schnabel aus dem Fluss erhob.
Das Gebäude der
Industrie- und Handelskammer lag rechterhand, direkt dahinter
folgte der Sparkassenturm. Die Fahrt dauerte keine drei Minuten,
bis die Schwebebahn in die Station Döppersberg rollte. Sanft
verzögerte der Zug.
Tauben flatterten
aufgeschreckt ins Freie. Danni blickte sich im Sitz um. Niemand
schien sie zu verfolgen. Sie hatte ein ungutes Gefühl, seitdem
sie die geheime Akte aus der Klinik entwendet hatte. Eigentlich war
sie viel zu ehrlich und viel zu feige, um irgendetwas mitgehen zu
lassen, aber ihr stark ausgeprägter Sinn für
Gerechtigkeit hatte gesiegt. Es war höchste Zeit, dass diesem
Brechtmann mal jemand auf die Finger schlug. Ein Mann war gestorben, und sie
wusste nicht, ob der arme Kerl das erste Opfer gewesen
war.
Ihre Gedanken kreisten
um die Machenschaften von Dr. Brechtmann, während die Bahn
weiter in Richtung Barmen fuhr. Nachdem der orange-blaue Zug die
Bundesallee überquert hatte und linkerhand das große
Kino und wenig später das Schauspielhaus auftauchte, wurde es
an der Station Landgericht leerer. Einige Leute stiegen gut gelaunt
aus, um sich einen netten Abend im Kino zu gönnen. Danni
konnte es recht sein. Vielleicht sollte sie sich auch mal wieder
eine Auszeit gönnen. Ein netter Abend, ein verlängertes
Wochenende in einer anderen Stadt - aber mit wem nur, fragte sie
sich seufzend. Stefan wäre schon ein Kandidat, doch der war ja
bereits vergeben. Nachdem sie sich heute getroffen hatten, war da
gleich wieder diese Vertrautheit gewesen, die sie schon damals, als
Kind, an ihm so sehr geliebt hatte. Er war ein Typ, mit dem man
Pferde stehlen konnte,
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