Bittere Pille
rechtes Bein raus. »Danke für
die kleine Reise in meine Vergangenheit. Ich werde heute Nacht
träumen. Von den Fahrten, die ich früher mit dem kleinen
Volkswagen gemacht habe.« Linkes Bein raus, mühsames
Hochziehen an der A-Säule. Fingerabdrücke auf der
Windschutzscheibe.
»Soll ich Ihnen
helfen?«
»Nein, danke. Es
geht schon, wenn nur die Hüften nicht wären.« Sie
bückte sich in den Wagen und verabschiedete sich von Stefan.
»Danke noch mal. Und grüßen Sie den Herrn Doktor
von mir, wenn Sie ihn antreffen.« Türe zu.
Das werde ich besser
nicht tun, dachte Stefan, winkte freundlich und fuhr an. Sein Weg
führte nach Wermelskirchen. Er wollte schon immer mal zum
Stall.
43
Rott, 18:20
Uhr
»Kripo? Habe ich
was verbrochen?« Die Frau warf durch die einen Spaltbreit
geöffnete Tür einen kurzen Blick auf ihre Dienstausweise.
Danach schlug sie die Wohnungstür zu. Heinrichs blickte seinen
Vorgesetzten mit einem belämmerten Gesichtsausdruck an, als
drinnen eine Eisenkette rasselte und die Türe geöffnet
wurde. »Kommen Sie rein, quatscht sich besser als im
Treppenhaus.«
»Es wird nicht
lange dauern, Frau Dahlhaus.« Ulbricht und Heinrichs
tauschten einen Blick, ließen die Dienstausweise verschwinden
und traten ein. Es roch nach Mittagessen, trotz der späten
Stunde. Vermutlich aß sie abends warm. Sie sah jedenfalls so
aus. Frau Dahlhaus war Ende fünfzig, zwei Köpfe kleiner
als Ulbricht und ein wenig pummelig. Sie trug eine dunkle
Baumwollhose und eine schwarze Bluse - trotz des sommerlichen
Wetters. Trauer. Nur für die Leute, dachte Ulbricht. Ihr
rundes Gesicht glühte vor Aufregung, als sie die Polizisten
durch die Mietwohnung an der Eichenstraße führte. Die
Wohnung war einfach eingerichtet, aber sauber. Im Flur ein
beigefarbener Teppich, der ihre Schritte dämmte, Tapete mit
Blumenmuster und eine altmodische Garderobe. Jacken in Grau, Braun
und Schwarz am Haken, auf dem Brett darüber zwei
Herrenhüte.
»Die haben
meinem Mann gehört.« Sie war stehen geblieben, als sie
die Blicke der Beamten bemerkt hatte. Tränen traten in ihre
Augen. »Es war ein schleichender Tod, und Dr. Brechtmann war
unsere letzte Hoffnung.« Kopfschütteln. Sie knüllte
ein Taschentuch in der rechten Faust zusammen. »Gehen wir in
die Küche.« Zweite Tür links.
Siebzigerjahreküche, aber wie aus dem Laden, musste Ulbricht
neidlos anerkennen. Margarete Dahlhaus war eine anständige
Hausfrau. In der Spüle eine einzige Kaffeetasse und ein
kleiner Teller sowie Besteck. Auf dem Herd ein Topf. Vom Inhalt
konnten die Beamten nichts sehen, der Deckel lag schief darauf.
»Ich muss mich erst daran gewöhnen, jetzt für mich
alleine zu kochen. Setzen Sie sich.« Leidiges Stöhnen.
Sie deutete auf den Küchentisch am Fenster und
rückte ihnen die Stühle mit Chromrohrrahmen zurecht. Sie
setzten sich. Blick aus dem Fenster. Tristes Hinterhofidyll.
Mülltonnen, ein verkümmertes Beet und schiefe Platten am
Boden mit Moos in den Fugen. Gegenüber Altbau. Im Hof schienen
die Häuser am Himmel zusammenzuwachsen. Ein Kind schrie, aus
einem offenen Fenster türkische Musik, jemand telefonierte
laut. Wozu telefonierte der überhaupt? Er war in ganz Barmen
zu hören.
»Kaffee?«
»Nein,
danke.« Ulbricht schüttelte den Kopf. Wie oft hatte er
in den letzten Jahren frischgebackene Witwen besuchen müssen,
um ihnen vom Tod des Gatten zu berichten. Er hatte es immer
gehasst, solche Hiobsbotschaften zu überbringen. Und daran
hatte sich in all den Jahren nie etwas geändert. »Das
mit Ihrem Mann tut uns leid. Sie sagten eben, es sei ein
schleichender Tod gewesen«, eröffnete Ulbricht das
Gespräch. Margarete Dahlhaus lehnte an der Spüle. Sie
nickte und stierte ins Leere. »Es ist so armselig. Die
Menschen fliegen zum Mond, erfinden Dinge wie Telefone ohne Schnur.
Es gibt Satellitenfernsehen und Internet. Aber gegen manche
Krankheiten ist kein Kraut gewachsen.« Ein frustrierter
Seufzer. »Franz litt an Alzheimer.« Sie putzte sich
eine Träne mit dem Handrücken aus dem
Augenwinkel.
»Mögen Sie
uns die ganze Geschichte erzählen?«
»Natürlich.« Sie
kämpfte wieder gegen die Tränen an. »Anfangs hat er
kleine Dinge vergessen. Nichtigkeiten. Manchmal haben wir doch alle
ein Gedächtnis wie ein Sieb, wir haben dem nicht allzu
große Bedeutung beigemessen. Aber es wurde schlimmer. Er hat
seinen Pass verlängern lassen wollen, beim Einwohnermeldeamt.
Als die Sachbearbeiterin ihn nach seiner aktuellen Adresse fragte,
blickte er mich
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