Bitterer Chianti
gibt‘s?»
Der Angesprochene zog einen Stuhl heran, fuhr sich mehrmals mit den Fingern durchs lange, dunkelbraune Haar und setzte sich zwischen die beiden Tische. «Niccolò Palermo ist verschwunden! Giorgio auch, sein Sohn. Seine Frau hat eben angerufen. Sogar das Consorzio hat sie verrückt gemacht. Dabei haben die gerade ganz andere Sorgen ...»
«Ach, ich kenne Niccolò», unterbrach einer der Männer am Nebentisch und winkte ab, «da steckt ’ne Weibergeschichte dahinter. Letztes Jahr hatte er deswegen auch schon Ärger. Ein Drama mit seiner Frau. Die macht jeden verrückt, wenn Niccolò fünf Minuten zu spät kommt. Paranoia totale!»
«Der nimmt doch seinen Sohn nicht mit zu seiner Geliebten. Außerdem sind ihre Autos da.»
«Dann hat sie jemand abgeholt...»
Die Geschichte wurde Frank langsam unheimlich. Und wenn das Verschwinden des Winzers mit den Predigern zu tun hatte? Trotzdem hielt er es für besser, nichts zu sagen, sich rauszuhalten, er war Beobachter und gehörte hier nicht dazu. Allerdings – wenn der Winzer nicht auftauchte, müsste er mit seiner Frau die Termine absprechen.
«Wer ist das?», fragte der Neuankömmling und wandte sich Frank zu. «Ihr Gesicht habe ich hier noch nie gesehen.»
«Franco Gatow, halb Italiener, halb Deutscher, er fotografiert für einen deutschen Verlag. Nein, nicht dich, Stefano, du siehst zu gut aus, meine Fattoria knipst er, morgen früh – na gut, unsere, wenn du so willst.» Giacomo Paese wandte sich an Frank: «Stefano Scudiere berät mich und auch andere Winzer. Er ist das, was wir hier einen Consultore nennen, auf Englisch Flying Winemaker.»
«Heute hier, morgen auf Sizilien, übermorgen in Tirol. Unbeständig, gehetzt, unausgeschlafen, unzuverlässig ...»
«... unmäßig in seinem Qualitätsanspruch», frotzelte einer der Winzer vom Nachbartisch, «... und in seinen Honorarforderungen!» In dem Einwurf klang ein ernster Unterton durch, und Frank horchte auf. «Wenn es nach Stefano ginge, müssten wir alle Weinstöcke rausreißen und das gesamte Chianti-Classico-Gebiet neu bepflanzen», sagte der Winzer.
Scudiere streckte gebieterisch die Hand aus. «Er meint das im Scherz, Franco, so war doch Ihr Name? Ganz so schlimm ist es nicht. Einige Produzenten haben in den letzten zehn Jahren die Hälfte ihres Bestandes erneuert, und das nicht zu ihrem Schaden. Was wollt ihr also?»
«Du musst hier kein Referat halten, Stefano. Frank Gatow ist Fotograf und kein Journalist. Die haben Augen und keine Ohren ...»
«Scudiere bremst man nur, wenn man ihm was zu trinken gibt», warf Paese ein.
«Was trinken wir?» Der Consultore nahm die Flasche, die zwischen Frank und Paese stand, und betrachtete das Etikett. «Bäh, dafür bin ich verantwortlich. Und ihr da, was trinkt ihr?» Er ergriff die Flasche vom Nebentisch. «Oh, Querciabella, che bello , da mache ich mit!» Er hielt einem der Männer ein leeres Glas hin, was dieser nur zwei Finger breit füllte.
«Avaraccio ... ! »
Bevor es zu einer Debatte über den «Geizhals» kam, stellte der Kellner die Tagliatelle auf den Tisch.
«Gehackte Schweinswürstchen», erklärte Paese, «natürlich odore , wie immer, und Peperoni, Weißwein, frische Tomaten ...» Beim Essen erzählte er Frank die Geschichte seines Weingutes, das er von seinem kranken Vater übernommen hatte, und welche Opfer er aufbringen musste, um daraus einen Spitzenbetrieb zu machen. «Meine gesamte Jugend habe ich im Weinberg verbracht. Wenn andere in die Disco sind, habe ich geschuftet, um fünf Uhr raus, jede Lira umdrehen, alles, was ich verdiente, habe ich wieder investiert. Deshalb bin ich heute da, wo ich immer hinwollte.»
«Er muss immer noch früh aufstehen», stichelte Scudiere, «und mich hetzt er auch raus, dabei muss ich mich jetzt noch um Niccolòs Frau kümmern ...»
«Das tust du doch gerne», kam es vom Nebentisch.
Der Consultore überhörte es. «Vielleicht taucht Palermo ja bald wieder auf. Wir sehen uns morgen?» Er legte Frank die Hand auf die Schulter. «Ich fange früh an, damit Giacomo länger schlafen kann, schließlich bezahlt er mich. Also, buona sera!»
Kurz vor zwölf verließ Frank das La Torre . Der Wein hatte seine Stimmung gehoben, aber der Brassato al Vino, das in Wein marinierte und anschließend geschmorte Rindfleisch, war fast schon zu viel gewesen, und auf die Birnentorte hätte er besser ganz verzichten sollen, und so ging er schwerfällig zum Hotel zurück. Andere Gäste, die gleichzeitig ankamen,
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