Bitterer Chianti
mit der Hand, sich einen Moment zu gedulden. «Pronto, Signora Palermo? Ah ... buona sera. Va bene? Allora , wir haben hier einen deutschen Fotografen, der war gestern mit Ihrem Mann ... ach ... nein? Sie auch nicht? In Florenz ist er nicht... Ja, seit gestern? Und Ihr Sohn auch nicht? Dio mio, das ist tatsächlich sehr ... Könnten sie nicht verreist sein? Nein? Ja, das wüssten Sie. Gut, Signora, ja, ich sage es ihm. Bitte, und wenn Sie was hören, bitte, melden Sie sich sofort? Keine Sorge, die tauchen wieder auf. Ich werde alle informieren, ja, selbstverständlich. Ich rufe an, ja, natürlich, sobald ich etwas erfahre ...»
Die Sachbearbeiterin legte auf und starrte das Telefon an. «Ihr Mann und ihr Sohn sind verschwunden. Seit gestern haben sie sich nicht mehr gemeldet.»
Das wusste Frank längst. «Wo haben Sie angerufen, in Florenz oder in der Kellerei?»
«In der Kellerei. Und was merkwürdig an der Sache ist ... die Fahrzeuge der beiden stehen im Hof. Keiner weiß, wo sie sind. Aber es sind ja zwei erwachsene Männer, da braucht man sich eigentlich keine ... O Madonna , was ist das?»
Im Treppenhaus hörte man Gelächter und polternde Schritte, Türen schlugen. «Sie sind da!» Die Sachbearbeiterin holte tief Luft und stand auf. «Ich hätte gern mehr Zeit für Sie, Signor Gatow. Fotografie hat mich immer besonders interessiert. Per favore, tun Sie mir den Gefallen und organisieren Sie die Termine selbst? Das wäre reizend von Ihnen, zumal Sie Italienisch sprechen.»
Die Frau stand bereits an der offenen Tür und hielt die Klinke in der Hand, der Lärm schwoll an. Sie sah ein bisschen verzweifelt aus, was ihr nicht schlecht stand.
Frank nickte ihr beruhigend zu, küsste sie leicht auf beide Wangen und zwängte sich an ihr vorbei in den Flur, wo die Journalistenmeute sich darüber beschwerte, dass die Weinlese noch nicht begonnen hatte.
Frank zuckte zusammen. Der Akzent eines der Männer ließ ihn aufhorchen, etwas Ähnliches hatte er schon mal gehört, gestern erst! So hatte einer der Prediger geredet, und Frank lief trotz der Hitze ein kalter Schauer über den Rücken. Die Männer waren viel zu sehr mit sich beschäftigt, als dass sie bemerkt hätten, wie Frank jeden Einzelnen von ihnen musterte, einen nach dem anderen, in aller Ruhe. Einige trugen Sonnenbrillen, die unterschiedlichsten Modelle ...
Hinter den Journalisten tauchte ein mittelgroßer Mann im hellbeigefarbenen Straßenanzug auf, ein elegantes Oberhemd, dazu eine ebenfalls beige Seidenkrawatte mit weißen Punkten, glattes, dunkelbraunes Haar, ein akkurater Messerschnitt, flinke Augen, darüber gewölbte Brauen, die ihm den Ausdruck eines interessierten Zuhörers gaben. Die scharfen Falten um den Mund zeugten jedoch von Verbissenheit. Das wird dieser Avvocato sein, Strozzi, derselbe Name wie der des Palazzo in Florenz. Also eine alte Familie, dachte er und betrachtete den Politiker genauer.
Es war Frank lieber, nichts über einen Menschen zu wissen, bevor er sich ein Bild von ihm machte. Es war für ihn zu einer Art Sport geworden, vom Aussehen auf den Charakter zu schließen und dann zu erfahren, wie weit er sich geirrt hatte. Christine und er hatten sich auf diese Weise die Zeit vertrieben, wenn sie irgendwo warten mussten, sie hatten überlegt, was hinter einem Gesicht verborgen liegen könnte, was dieser oder jener Ausdruck bedeuten mochte. Sie fand mehr Möglichkeiten, er kam der Wirklichkeit meistens näher. Zu dumm, dass er jetzt wusste, einen Politiker vor sich zu haben. Da blieb nicht mehr viel Raum für Phantasie.
Strozzi war mindestens zehn Jahre älter als er, in jedem Geschäftsbericht vorzeigbar: dynamisch, durchsetzungsfähig, mit einem durchaus gewinnenden Lächeln, nur Augen wie eine undurchdringliche Eisschicht. Mit weit ausgebreiteten Armen sorgte er für Ruhe und Aufmerksamkeit für seine Person und erzählte dann die Geschichte, wie der Schwarze Hahn zum Wappentier der Toskana wurde ...
«... und zum Symbol des Chianti Classico, im Jahr 1924, als unser Konsortium zum Schutz des Chianti-Weins gegründet wurde. Im Mittelalter hatten wir Florentiner ständig Ärger mit Siena, neidische Nachbarn, verstehen Sie? Aber damit ein Land sich entwickeln kann – als Amerikaner begreifen Sie das sicher –, braucht es Frieden und sichere Grenzen. Wir haben uns auf einen Wettstreit geeinigt, um die Grenzen festzulegen: Beim ersten Hahnenschrei sollten zwei Reiter aufbrechen, jeder zur anderen Stadt, und wo sie sich trafen, auf
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