Bitterer Nachgeschmack - Anthologie
Dunkelheit aus. Ihre Hände begannen zu zittern. Die Finsternis bemächtigte sich ihrer in Windeseile.
»Hoheit?«, flüsterte jemand.
»Agnes?« Anna fand, dass ihre Stimme noch dünner klang als sonst. Es mochte die Angst sein. Sie beide hatten den Tod zu erwarten, wenn man sie stellte. Das Mädchen, das ihr alles im Leben bedeutete, in Gefahr zu wissen, schien ihr unerträglicher als ihr eigenes Schicksal. »Agnes, bist du das?«
»Ja, Hoheit.« Agnes bog um die Ecke und betrat das winzige Verlies. Es war so niedrig, dass selbst sie den Kopf einziehen musste. Der Schein ihrer Kerze tanzte über die Mauern.
Anna keuchte auf: »Was ist mit deinem Haar?«
Agnes lächelte leise. Sie hatte ihre Zöpfe abgeschnitten, trug die Kleidung eines Stallburschen. »Die Pferde stehen bereit, Fürstin.«
»Himmel!« Anna hatte seit zwanzig Jahren auf keinem Pferd mehr gesessen.
»Habt keine Angst. Es wird sehr leicht gehen!« Anna erhob sich und kroch als Erste aus dem Verlies.
»Wartet!«
Anna drehte sich um.
»Von heute an lautet Euer Name Barbara. Anna von Sachsen ist tot.« Agnes' grüne Augen strahlten im schwachen Kerzenlicht.
»Barbara«, murmelte Anna. »Barbara.«
Agnes schob sich flink an ihr vorbei und führte sie die gewundene Treppe nach oben, wo sie das Tor zum Burghof aufstießen und dann an der Mauer entlang zu den Stallungen hasteten. Es schneite unaufhörlich. Niemand war zu sehen. Die Kälte kroch in Windeseile durch alle Kleider und biss den beiden Frauen in die Knochen.
Zwei Pferde, ein Fuchs und ein Brauner, warteten schnaubend. Agnes half Anna in den Sattel und reichte ihr ein langes Wolltuch, damit sie ihr Gesicht verhüllen konnte. Sie selbst kletterte wie der Wind auf den Fuchs und drückte ihre Fersen in seine Flanken.
Die "Wache am Tor sah ungnädig zu ihnen heraus.
»Ich habe Order, die Küchenmagd Agnes in die Stadt zu begleiten«, rief Agnes gegen den Wind. »Ihr Vater liegt im Sterben.«
»Braucht sich gar nicht einbilden, dass man sie wieder reinlässt. Wir haben schon genug Krankheit hier oben!«, knurrte die Wache.
Agnes und Anna ritten hinaus. Es hatte aufgehört zu schneien und der Mond, nun nicht mehr ganz rund, glänzte von Zeit zu Zeit zwischen den dahinjagenden Wolken auf.
1613-1633
Erst zu Beginn des Sommers erfuhren wir, dass Herzog Johann Casimir seine ehemalige Frau im Kloster Sonnefeld hatte bestatten lassen.
»Er wird begeistert sein, dass er sich die Unterhaltskosten für mich jetzt sparen kann«, murmelte Anna.
Wir rasteten an einer Quelle im Wald. Seit Wochen zogen wir umher. Nach unserer Flucht waren wir bei einem Köhler untergekommen, dessen Frau bei der Geburt des ersten Kindes gestorben war. Wir führten ihm den Haushalt gegen mageres Essen und einen Schlafplatz. Er war gramgebeugt und sprach nicht viel.
Im April machten wir uns nach Westen auf. Wir versuchten, möglichst wenig mit irgendwem zu tun zu bekommen, der des Weges kam, doch der Hunger und der wochenlange Regen forderten uns alles ab. Nachts träumte ich von Affra und wachte schweißbedeckt auf, Annas Hand auf meiner Stirn.
Schließlich verdingten wir uns als Melkerinnen auf einem Gut in der Wetterau. Wir gaben uns als Mutter und Tochter aus, geboren in Komotau, die durch den Tod des Ehemannes und Vaters obdachlos geworden waren. Eine Melkerin des Gutes war vor Kurzem zwischen die Räder eines Karrens geraten und an ihren Verletzungen gestorben. Es musste rasch Ersatz gefunden werden. Ich konnte melken und ich zeigte Anna die wichtigsten Handgriffe. Sie lernte schnell.
Unser Leben geriet in geregelte Bahnen. Mein Haar war längst wieder lang genug, um es zu Zöpfen zu flechten. Anna ging auf die 50 zu, aber das Leben in Freiheit, mit harter Arbeit und guter Ernährung, nah bei den Tieren und umgeben von sorglosen Menschen, die vom Schicksal der Anna von Sachsen nichts ahnten, taten ihr gut. Sie nahm zu, die Fältchen in ihrem Gesicht wurden flacher und in den Sommern legte sich eine zarte Bräune auf ihre Haut.
Auch mir ging es gut. Ein junger Mann aus dem Hausgesinde interessierte sich für mich. Ich hatte keine Papiere. Anna behauptete, sie seien beim Stadtbrand von Komotau im Jahr 1598 verloren gegangen. Niemand nahm daran Anstoß. Doch kurz vor der Hochzeit, gerade war ein Stier zum Decken der Kühe gebracht worden, machte das Tier sich los und zwei der Männer, die ihn einzufangen versuchten, wurden schwer verletzt. Der Mann, der mir den Hof gemacht hatte, starb am Fieber.
Dann brach
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