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Bitterer Nachgeschmack - Anthologie

Bitterer Nachgeschmack - Anthologie

Titel: Bitterer Nachgeschmack - Anthologie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Senghaas , Iny Lorentz
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Zelle.
    Kein Mensch konnte ohne Hoffnung leben, aber zurückgeworfen zu werden, wenn man gehofft hatte, bedeutete noch schlimmere Qual, ein Leid, das Anna kaum noch zu ertragen imstande war.
    Doch ihre Lage hatte sich verändert: Seit Agnes da war. Das Mädchen mit den grünen Augen und dem honigblonden Haar, das sie in zwei dick geflochtenen Zöpfen trug, die ihr bis zu den Hüften reichten. Agnes selbst war Hoffnung, allein durch ihre freundliche Anwesenheit. Voller Gleichmut ertrug sie Annas Launen, ihre abgründige Verzweiflung und ihre unbarmherzig aufwallende Wut auf alles und jeden, dem Anna in ihrer Zelle nicht ausweichen konnte. Enttäuschungen, Hunger, Kälte. Und vor allem die grauenvolle Einsamkeit. Das Ausgeliefertsein. Agnes saß in diesen Augenblicken neben Anna auf der Bettstatt und strich ihr sanft über den Arm.
    Annas anfängliches Misstrauen gegen ihre Zofe war nach wenigen Wochen buchstäblich erloschen. Ihr Herz sagte ihr, dass Agnes nur ihr gegenüber loyal sein würde und nicht gegenüber dem Herzog. Anna begann, die Wärme in Agnes' grünen Augen zu lieben und ihre bedingungslose Zuversicht, dass es irgendwo ein Leben gab, an dem sogar die armselige Gefangene Anna von Sachsen teilhatte. Nachdem sie einander ein halbes Jahr kannten, hatte Anna es gewagt, ihren Kopf an Agnes' Schulter zu lehnen. Agnes hielt still und Anna lauschte dem Herzschlag des Mädchens, ein gleichmäßiges, kräftiges Pumpen wie der Atem eines kleinen Tieres.
    Anna wartete voll schmerzlicher Ungeduld auf Agnes' Besuche. Sie versuchte, ihren Geist zu klären und die finsterste Verzweiflung nicht zu zeigen, um Agnes nicht zu belasten. Aus dem wenigen, was sie besaß, machte sie kleine Geschenke für das Mädchen. Das Grauen, wenn die Zellentür sich am Abend hinter Agnes schloss, wurde nur gemildert durch das sichere Wissen, dass das Mädchen am nächsten Tag wieder durch eben jene Tür treten würde. Das war mehr als Hoffnung: In Annas Leben war Zuversicht eingezogen.
    Doch manchmal zweifelte Anna. Was, wenn der Herzog Wind davon bekäme, wie lieb sie ihre Kammerzofe gewonnen hatte? Würde er ihr in seinem Grimm das Mädchen wegnehmen? Ihr früherer Gemahl wäre dazu imstande, und so hütete Anna sich, allzu deutlich zu zeigen, was sie fühlte. Dass Agnes wie eine Tochter für sie war, die zu verlieren Anna umbringen würde.
    Sie hatte ein erneutes Gnadengesuch an den Herzog gestellt. Womöglich bestand eine winzige Chance, dass er sie begnadigen würde. Vielleicht in einem Jahr, wenn sie volle 20 Jahre in der Zelle gesessen hätte. Anna saß auf ihrer Bettstatt und sah durch das vergitterte Fenster in den Himmel über der Veste Coburg. Wolken zogen eilig vorbei, ließen ab und zu das Blau des Spätherbstes durchscheinen. Es war kalt und windig. Jeden Abend hörte Anna Schwärme von Krähen über die Burg hinwegziehen. Der Winter würde bald hereinbrechen. Sie fürchtete sich vor der Kälte.
    Gegen zwei Uhr würde Agnes kommen. Wie jeden Tag. Vielleicht brachte sie gute Nachrichten. Ihr Schreiben an Johann Casimir hatte Anna vor gut zwei Monaten verfasst und abschicken lassen. Wie lange konnte es dauern, bis er antwortete? Ängstlich knetete sie ihre Finger.
    Als der Schlüssel in der Zellentür sich drehte, sah sie auf. Agnes trat ein, die langen Zöpfe trug sie zu einem Kranz um den Kopf gesteckt.
    »Guten Tag, Hoheit!«, sagte sie und knickste. »Wie geht es Euch heute?«
    »Guten Tag, Agnes. Danke. Es geht mir wie immer.«
    Agnes wartete, bis die Wache die Zellentür von außen verriegelt hatte, dann legte sie einen Brief neben Anna auf das Bett. »Das schickt Euch der Herzog.«
    Annas Herz setzte einen Augenblick aus, als sie das Siegel erkannte. Mit bebenden Fingern griff Anna nach dem Papier. Gegen die Hoffnung konnte sie nichts tun. Obwohl ihr Körper und ihr Geist sich dagegen wehrten zu hoffen, weil sie die Enttäuschung fürchteten.
    Sie las das kurze Schreiben zweimal durch. Ihr Atem ging schnell. Obwohl sie bewegungslos dasaß, bekam sie Seitenstechen. Dann ließ sie die Arme sinken.
    Sie war nicht imstande zu weinen. Sie konnte auch nicht schreien, sie besaß keine Kraft, sich gegen die Wände zu werfen oder sich den Kopf an den Fenstergittern wieder und wieder anzuschlagen. Da war noch etwas in dem kurzen Brief, nicht nur das strikte Nein, sondern eine unterschwellige Drohung. Dass er ihr auch die wenigen Privilegien wegnehmen könnte, die sie besaß. Essen, so viel sie wollte, obwohl sie kaum etwas

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