Bitteres Geheimnis
dicken Zeigefinger - »von, sagen wir, Mäusen sehr wohl. O ja, ganz entschieden. Und ich glaube, ich weiß, wo du da was finden kannst.«
Bernie wischte sich die Hand an einer Papierserviette ab und zog ein in Leder gebundenes Notizbuch aus der Innentasche seines Tweedjacketts. Er klappte es ganz hinten auf und schrieb etwas hinein. Dann riß er die Seite heraus und reichte sie Jonas.
»Mit dieser Dame solltest du dich mal unterhalten. Sie ist hier an der Universität.«
Jonas las den Namen. »Henderson, Embryologin. Ist sie gut?«
»Eine Kapazität. Du kannst sie praktisch zu jeder Zeit in ihrem Labor erreichen. Dritter Stock. Du brauchst vorher nicht anzurufen. Sie hat gern Besuch und sie redet gern. Und wenn sie dir sagt, daß Parthenogenese bei Säugetieren nicht möglich ist, mein Freund, dann kannst du dich drauf verlassen, daß es stimmt, und kannst deine hirnverbrannte Idee endgültig ad acta legen.«
Es war ein glühend heißer Tag. Mary lag auf ihrem Bett und starrte zur Lampe in der Mitte der Zimmerdecke hinauf. Sie wünschte, sie hätte ein anderes Zimmer; ihres ging nach Süden. Nicht einmal die Klimaanlage, die das ganze Haus kühlte, brachte da viel Abhilfe.
Sie war heute morgen nicht zur Schule gegangen. Nach einer fast schlaflosen Nacht, in der sie stundenlang geweint hatte, war sie am Morgen mit rasenden Kopfschmerzen und starker Übelkeit erwacht. Obwohl sie seit dem vergangenen Mittag nichts gegessen hatte, hatten die Gerüche von gebratenem Schinken und Kaffee, die aus der Küche kamen, das Gefühl der Übelkeit nur verstärkt, und sie war gar nicht erst hinausgegangen. Sie hatte ihr Zimmer abgesperrt und war den ganzen Tag für sich geblieben. Daß ihre Mutter nach dem gestrigen Tag zum Alltag zurückkehren konnte, als wäre nichts gewesen, war ihr unbegreiflich.
Niemand war an ihre Tür gekommen. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, nach ihr zu sehen. Sie hatte gehört, wie ihr Vater gegen elf weggefahren war, und hatte mittags Amy mit ihrem Schwimmzeug unter dem Arm davongehen sehen. Sie hatte gehört, wie ihre Mutter durch das ganze Haus gegangen war und alle Fenster geschlossen hatte, um dann die Klimaanlage einzuschalten. Danach war sie ins Schlafzimmer gegangen und hatte die Tür zugemacht.
Jetzt wurde es bereits dämmrig, und Mary lag immer noch in ihrem Zimmer. Auch ihre Mutter hatte sich nicht aus dem Schlaf zimmer gerührt. Amy war bis jetzt nicht heimgekommen, und ihr Vater auch nicht.
Sie wartete mit Ungeduld und Furcht auf seine Heimkehr, um endlich zu erfahren, was er nun zu tun gedachte. Gestern abend hatte ihre Mutter ihm gesagt, er solle jemanden suchen, damit sie »das Ding loswerden« könnten.
Das Telefon läutete.
Sie lauschte. Nichts rührte sich im Haus. Beim dritten Läuten sprang Mary vom Bett und rannte hinaus. Sie lief zu dem Apparat in der Küche, weil der von den Schlafzimmern am weitesten entfernt war, und hob ab.
»Hallo?« meldete sie sich außer Atem.
»Mary?« Es war Germaine. »Wie geht's dir?«
Mary lehnte sich an die kühle Wand. »Hallo, Germaine.« »Warum warst du heute nicht in der Schule? Alle haben nach -«
»Mir war wieder nicht gut.«
»Hat der Arzt denn nicht festgestellt, was dir fehlt?«
Mary seufzte. Seit jenem ersten Besuch bei Dr. Wade schien eine unendlich lange Zeit verstrichen zu sein. Germaine wußte von diesem Besuch, aber nicht von dem Befund und auch nicht von dem zweiten. Besuch bei Dr. Evans.
»Nein. Es scheint was ganz Mysteriöses zu sein.«
»Hey, wir haben heute unsere Zeugnisse bekommen. Stell dir vor, in Französisch hab ich ein B. Ist das nicht toll? Die fand meinen Aufsatz über den Existenzialismus tatsächlich gut. Mary? Hörst du mich überhaupt?«
»Ja.«
»Kommst du morgen wieder?«
»Ich weiß noch nicht.«
»Es ist der letzte Tag, Mary, du weißt doch, da geht's immer hoch her.« Einen Moment trat Schweigen ein. »Okay, dann mach ich jetzt mal Schluß. Ich warte morgen an der Fahnenstange auf dich wie immer, ja?«
»Ja.«
»Und wenn du was brauchst, dann ruf mich an, okay?«
»Ja. Danke.«
Den Hörer in der Hand behaltend, obwohl Germaine aufgelegt hatte, stand Mary da und sah sich wie eine Fremde in der Küche um. Mehrere Schubladen standen offen, auf der Anrichte waren Kaffeeflecken, die Butter auf dem Tisch war halb geschmolzen. Sie drückte auf die Gabel des Telefonapparats, wartete, bis das Freizeichen kam und wählte dann beinahe mechanisch Mikes Nummer.
Timothy meldete sich. »Hier ist
Weitere Kostenlose Bücher