Bitteres Geheimnis
»Ich kann jetzt nicht mit dir sprechen, Mary. Ich muß mir selbst erst klar werden, was ich tun soll. Ich muß erst mal mit mir selber zurechtkommen, verstehst du? Wir müssen zusammenhalten, Mary, aber du willst nicht, du hast kein Vertrauen zu mir, und ich - ich -«
Ihre Stimme war tonlos. »Du hast mir überhaupt nicht zugehört.« Ohne ein weiteres Wort legte sie auf.
Minutenlang blieb sie wie betäubt auf dem Boden hocken, ohne sich zu rühren, ohne einen Laut. Das Telefon läutete zwölf mal, aber sie hob nicht ab. Dann schlug sie die Hände vor ihr Gesicht und begann zu weinen.
»Daddy«, schluchzte sie immer wieder. »Daddy ...«
Ted war überrascht, das Haus dunkel vorzufinden, als er nach Hause kam. Er blieb einen Moment lang verwundert stehen und blinzelte in die Dunkelheit, dann knipste er in der Diele das Licht an und ging müde ins Wohnzimmer.
Jetzt brauchte er erst einmal einen Whisky. Dann würde er nachsehen, wo der Rest der Familie war, und danach würde er viel leicht darüber nachdenken, wie es weitergehen sollte.
Als er noch dabei war, sich einzuschenken, hörte er plötzlich lautes Krachen und das Splittern von Glas. Er stellte Flasche und Glas nieder und stürzte hinaus. Der Flur war leer, aber unter der Tür zum Badezimmer der Mädchen schimmerte Licht. Ted rannte hin und legte das Ohr an die Tür. Nichts.
»Mary?« rief er. Alles blieb still. »Amy?« Noch immer rührte sich nichts. Er versuchte den Türknopf zu drehen. Die Tür war abgeschlossen.
»Wer ist da drin? Antwortet! Mary? Amy?«
Er schlug mit beiden Fäusten an die Tür.
Die Tür des Schlafzimmers öffnete sich. Lucille kam schlaf trunken heraus. »Was ist das für ein Krach «
»Mary!« Ted schlug fester an die Tür. »Mary! Mach auf!« Lucille kam zu ihm.
»Was ist denn los?«
Ohne sie zu beachten, ging er ein paar Schritte zurück, hob das rechte Bein und trat mit dem Fuß kräftig gegen die Tür. Ein schwarzer Abdruck blieb auf dem Weiß des Holzes zurück. Er trat noch einmal.
»Ted!« schrie Lucille.
Beim sechsten Tritt sprang die Tür auf. Ted stürzte ins Bad. Mary lag in einer Blutlache auf dem Boden. Im Waschbecken fanden sie eine Rasierklinge.
7
Am schlimmsten fand sie den Ausdruck auf dem Gesicht ihres Vaters. Ihre Mutter war wenigstens so rücksichtsvoll gewesen, zum Fenster zu gehen und zur Straße hinauszuschauen; aber Ted mußte am Bett sitzen und sie unablässig ansehen. Er erinnerte sie an einen Cockerspaniel.
Marys Arme lagen auf der Bettdecke. Beide Handgelenke und Hände waren verbunden; die Klinge hatte an ihren Fingern eben soviel Schaden angerichtet wie an den Handgelenken.
Sie war am Abend zuvor auf der Unfallstation zu sich gekommen. Dr. Wade verband gerade ihr Handgelenk, als sie, vom grellen Licht geblendet, den Kopf auf die Seite drehte, seine vertraute Stimme hörte. »Es ist alles gut, Mary«, sagte er ruhig. »Du hast nicht viel Blut verloren. Du bist durch die psychische Belastung ohnmächtig geworden, nicht vom Blutverlust.«
Sie drehte den Kopf wieder zurück, um ihn ansehen zu können. Er lächelte beruhigend. Sie schloß die Augen und schlief wieder ein.
In der Nacht war sie erneut aufgewacht, allein in einem Privatzimmer, einen Plastikschlauch im Arm, der zu einer über ihr hängenden Flasche hinaufreichte. Sie hatte lange wach gelegen und sich zu erinnern versucht. Aber schließlich war sie doch wie der eingeschlafen.
Als sie am Morgen erwachte, war der Schlauch in ihrem Arm nicht mehr da. Eine freundliche Schwester war hereingekommen, hatte eine Schale mit warmem Wasser vor sie hingestellt und ihr behutsam das Gesicht gewaschen, ihre Zähne geputzt und dann ihr Haar gekämmt. Mary hatte das alles schweigend über sich ergehen lassen. Später war dieselbe Schwester mit dem Frühstück gekommen und hatte Mary geduldig gefüttert.
Und dann waren endlich ihre Eltern gekommen. In den Augen ihres Vaters sah sie so viel Verwirrung und Schmerz, daß sie es kaum über sich brachte, ihn anzusehen.
»Wir haben Amy gesagt, du hättest Blinddarmentzündung«, sagte er mit einem kummervollen Blick auf ihre verbundenen Hände. »Deine Mutter hat in der Schule angerufen und das gleiche gesagt. Sie schicken dir dein Zeugnis per Post.«
Sie hielt den Blick auf die in der Zimmerdecke verankerte Metallstange gerichtet, an der ein Vorhang herabhing, den man um das ganze Bett herumziehen konnte. Sie wünschte, sie könnte das jetzt tun. Sich von ihren Eltern abschirmen.
»Mary
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