Bitteres Geheimnis
»Mr. McFarland, Sie und Ihre Frau müssen jetzt eine wichtige Entscheidung treffen. Pater Crispin und ich sind gern bereit, Sie zu beraten, aber letztlich liegt die Entscheidung allein bei Ihnen.«
Ted, der Lucilles Hand umschlossen hielt, nickte nur.
»Bei einem Selbstmordversuch«, fuhr Jonas Wade fort, »ins besondere bei Minderjährigen, ist es meine Pflicht, der Polizei Meldung zu machen. Es geht dabei nicht um eine Strafverfolgung, sondern um den Schutz des Opfers. Minderjährige werden dabei in der Regel dem Gericht unterstellt, das dafür sorgt, daß sie aus den Verhältnissen herausgenommen werden, die sie zu dem Selbstmordversuch getrieben haben.«
Ted wollte etwas sagen, doch Jonas Wade hob abwehrend die Hand.
»Bitte lassen Sie mich zu Ende sprechen. Es ist klar, daß jeder Fall anders liegt. Die Familienverhältnisse, die Lebensumstände, in denen das Kind sich befindet, unterscheiden sich von Fall zu Fall. Sehr häufig kommt einem Kind das Eingreifen der Behörden zugute. Beispielsweise wenn es aus einer unerträglichen häuslichen Situation herausgenommen wird.«
Ted spürte, wie Lucille ihm ihre Hand entzog. Er sah sie an. Ihr Blick war in konzentrierter Aufmerksamkeit auf den Arzt gerichtet.
»Ich bin mir jedoch nicht sicher«, fuhr Jonas Wade fort, »daß in Marys Fall eine behördliche Intervention wirklich in ihrem Interesse wäre. Ich meine, in Anbetracht dessen, was ich über ihr Zuhause und ihre tiefe Verbindung zur Kirche weiß. Ich fühle mich nicht verpflichtet, diesen Fall zu melden, wenn wir, die wir hier sitzen, gemeinsam eine angemessene und praktische Lösung finden können.«
In dem kleinen Aufenthaltsraum, in dem es nach kaltem Zigarettenrauch roch, war es einen Moment lang still. Dann fragte Ted leise: »Hat Mary mit Ihnen gesprochen, Dr. Wade?«
»Ja, aber was sie mir sagte, kann ich nicht weitergeben. Sie hat das gleiche Recht wie jeder Erwachsene darauf, daß ihre Mitteilungen im Rahmen des Arztgeheimnisses vertraulich behandelt werden. Eines kann ich und will ich jedoch sagen: Wir müssen rasch handeln.«
»Dr. Wade.« Lucilles Stimme war tonlos. Ihr Gesicht war sehr bleich. »Warum hat sie es getan?«
Er breitete die Hände aus. »Warum fragen Sie das nicht Ihre Tochter?«
Lucille schüttelte nur den Kopf.
»Ich verstehe nicht«, sagte Ted beinahe heftig, »wieso Mary sich Fremden öffnet, Leuten, die nicht zur Familie gehören, und sich weigert, mit uns zu sprechen. Vertraut sie uns denn nicht, Dr. Wade?«
»Mr. McFarland, Ihre Tochter klammert sich im Augenblick an jeden, der bereit ist, ihr zu glauben. Offenbar haben Sie und Ihre Frau ihr deutlich gezeigt, daß Sie ihrer Behauptung keinen Glauben schenken, deshalb verweigert sie sich Ihnen.«
»Aber es ist doch ausgeschlossen, daß sie die Wahrheit sagt!«
Jonas Wade wiegte den Kopf hin und her. »Dieser Fall hat einige äußerst ungewöhnliche Aspekte. Die Hartnäckigkeit, mit der sie an ihrer Behauptung festhält ... « Einen Augenblick lang erwog er, ihnen von seinem Verdacht und seinen Recherchen zu berichten, verwarf es aber wie zuvor bei Mary. Er wollte erst mit Dr. Henderson sprechen. »Außerdem kommt es nicht darauf an, ob sie die Wahrheit sagt oder nicht. Der springende Punkt ist, daß sie selbst an ihre Unschuld glaubt, und Sie sich weigern, ihr zu glauben.«
»Kommt so etwas häufig vor?« fragte Pater Crispin.
»Höchst selten, Pater. Viele Mädchen behaupten, vergewaltigt worden zu sein, wenn sie nicht eingestehen wollen, daß sie sich auf intime Beziehungen eingelassen haben. Aber daß ein Mädchen beteuert, unberührt zu sein, obwohl an einer Schwangerschaft kein Zweifel besteht, kommt, wie gesagt, äußerst selten vor. In psychiatrischen Fachzeitschriften stößt man hin und wieder auf einen Bericht über einen solchen Fall; wo Frauen bis zur Entbindung und selbst danach noch behauptet haben, niemals mit einem Mann zusammen gewesen zu sein. Meistens sind das Fälle für den Psychiater.«
»Nein!« flüsterte Lucille. »Meine Tochter ist doch nicht verrückt. «
»Das habe ich auch nicht behauptet, Mrs. McFarland. Im übrigen sollte das im Moment nicht unsere Hauptsorge sein. Die Realität sieht doch folgendermaßen aus, Mr. und Mrs. McFarland: Ihre minderjährige Tochter ist schwanger. Sie befindet sich in einem emotionalen Zustand höchster Labilität und braucht Schutz und Hilfe. Sie müssen nun entscheiden, was geschehen soll. Da Abtreibung gesetzlich verboten ist, und ich annehme, daß
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