Bitteres Geheimnis
Priesters gar nicht wahr genommen zu haben.
Pater Lionel Crispin zog sich einen Stuhl heran und setzte sich, ein stattlicher, fünfzigjähriger Mann mit grauem Haar, das sich am Scheitel lichtete, so daß es aussah, als trüge er die Tonsur des Mönchs. Mit strengem Blick sah er zu Mary hinunter.
»Wie geht es dir heute morgen, Mary?«
»Ach, ganz gut, Pater.«
Er sah zu Germaine hinüber und schürzte leicht die Lippen.
»Dein Vater hat mir alles erzählt, Mary. lch kann nur sagen, ich wollte, du wärst gleich zu mir gekommen. Ich kenne dich seit deiner frühesten Kindheit, Mary. lch habe dich getauft. Du weißt, daß du mir vertrauen kannst. Wenn du in Not bist, kannst du immer zu mir kommen.«
»Ja, Pater.«
Er beugte sich ein wenig vor und tätschelte leicht ihre verbundene Hand. »Denk daran, Kind, du bist nicht allein. Gott, unser Herr, steht zu dir, wenn du ihn nur darum bittest. Für Sünden kann man Buße tun. Das Leben kann einen neuen Anfang nehmen. Verstehst du, was ich sage, Mary?«
»Ja, Pater.«
Pater Crispin sah das Mädchen mit einem beruhigenden Lächeln an, aber in Wahrheit konnte er nicht begreifen, was hier geschehen war, und war tief beunruhigt. Mary Ann McFarland war in der Grundschule von St. Sebastian eine seiner besten Schülerinnen gewesen. Die Nonnen liebten sie. Sie war die aufgeweckteste und tatkräftigste unter den Mädchen, die zu seiner Jugendgruppe gehörten. Und die Sünden, die sie regelmäßig jeden Samstag beichtete, waren Kleinigkeiten im Vergleich zu dem, was er von den meisten anderen jungen Leuten zu hören bekam.
Aus drei Gründen war er beunruhigt: sie hatte die Sünde des Geschlechtsverkehrs nicht gebeichtet; sie hatte einen Selbstmordversuch gemacht; und als Schwangere hatte sie damit zugleich einen Mordversuch begangen.
»Ich habe dir etwas mitgebracht.« Er griff in seine Tasche und zog einen langen schwarzen Rosenkranz heraus. Das silberne Kruzifix blitzte im Sonnenlicht, das durch die Fenster strömte. Er hielt den Rosenkranz vor ihr hoch und legte ihn ihr dann um die rechte Hand. »Von seiner Heiligkeit persönlich gesegnet.«
»Danke, Pater.«
»Möchtest du heute abend die heilige Kommunion nehmen?«
»Nein - Pater.«
Natürlich nicht, dachte er tief besorgt. Dann müßtest du ja vorher beichten, und du bist noch nicht bereit, dich mir anzuvertrauen.
Mit hochgezogenen Augenbrauen sah er zu Ted auf. Zwischen den beiden Männern fand ein wortloser Austausch statt, dann wandte sich der Geistliche wieder Mary zu. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch er kam nicht dazu. Nach einem kurzen Klopfen wurde die Tür geöffnet, und Dr. Wade trat ins Zimmer.
»Guten Morgen«, sagte er, sich im Zimmer umsehend. Marys Gesicht hellte sich auf, und sie versuchte erfolglos, sich etwas weiter aufzusetzen.
Als Pater Crispin aufstand, sagte Ted: »Dr. Wade, das ist Pater Crispin, unser Geistlicher.«
Die beiden Männer gaben sich die Hand. Dann ging Jonas Wade um das Bett herum und beugte sich lächelnd über Mary. »Und wie geht es meiner hübschesten Patientin heute?«
»Ganz gut.«
»Na, das wollen wir uns mal ansehen.«
Er drehte sich um und nickte den beiden Männern zu. Augenblicklich ging Ted zu Lucille und berührte leicht ihren Ellbogen. Wie im Traum drehte sie sich um und ließ sich von ihm aus dem Zimmer führen.
Germaine rutschte vom Bett und nahm ihre Tasche. »Ich muß los, Mary. Aber ich komm heute nachmittag noch mal.«
Jonas schloß die Tür hinter ihnen allen, dann kam er wieder ans Bett.
Mary sah lächelnd zu ihm auf. Er war nicht das, was man einen gutaussehenden Mann nennen würde, aber sein Gesicht, seine ganze Art hatte etwas, das Mary ansprach.
»Tja Mary, so trifft man sich wieder.« Er setzte sich auf den Stuhl, den Pater Crispin zurückgelassen hatte und beugte sich vor. »Wie behandeln sie dich denn hier?«
»Gut. «
»Und wie geht es deinen Händen?« Er legte den Rosenkranz weg und nahm ihr linkes Handgelenk, drehte es um und begutachtete den Verband. Dann tat er das gleiche mit der rechten Hand. »Du warst wohl ziemlich außer dir, Mary, als du das tatest, nicht? Diese zweischneidigen Klingen sind gefährlich, wenn man nicht richtig mit ihnen umgeht. Sei froh, daß du keine Sehne erwischt hast.«
Er lehnte sich zurück und betrachtete Mary. Sie erschien ihm viel kleiner und zarter, als er sie in Erinnerung hatte.
»Möchtest du mit mir darüber sprechen?« fragte er ruhig.
Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß
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