Bitteres Geheimnis
schön«, murmelte Mary. »Was ist das?«
Germaine hob den Kopf nicht, sondern ließ ihn über das Buch geneigt, so daß das herabströmende dunkle Haar ihr Gesicht verdeckte.
»Das ist ein Gedicht von Sappho.«
»Von wem?«
»Das war eine Dichterin im alten Griechenland. Sie schrieb Liebesgedichte.
»Und wer war der glückliche Auserwählte?«
Germaine nahm ihr Glas, trank einen tiefen Schluck und antwortete dann: »Sie schrieb die Gedichte für eine Frau namens Atthis.
Mary öffnete die Augen und sah die Freundin erstaunt an. »Ehrlich? Sie hat Liebesgedichte für eine Frau geschrieben?«
Germaine gab keine Antwort. Statt dessen klappte sie plötzlich das Buch zu und warf den Kopf zurück. Ihr Gesicht leuchtete in einem Lächeln.
»Schenk mir noch was ein, Mary«
Mary nahm die Flasche, zog den Korken heraus und goß Wein in beide Gläser. Sie war Alkohol nicht gewöhnt und fühlte sich von dem dunklen Rotwein in euphorische Stimmung versetzt. »Also, wann wirst du jetzt geröntgt?« fragte Germaine.
»Nächste Woche.«
»Und was kann man dann sehen?«
»Vor allem das Skelett des Kindes.«
»Hast du Angst davor, Mary?«
»Nein - ich glaube nicht. Oh!« Sie drückte die Hand auf den Bauch. »Sie ist heute abend ganz schön wild. Das ist wahrscheinlich der Wein. Hier, fühl mal.>< Sie nahm Germaines Hand und legte sie auf ihren Bauch. »Spürst du, wie sie strampelt?«
»Ja.« Germaine zog ihre Hand rasch wieder weg.
»Wir haben überhaupt noch keine Babysachen gekauft. Meine Eltern wollen das Kind zur Adoption freigeben, aber ich weiß noch nicht. Es muß doch möglich sein, daß ich es versorge und trotzdem zur Schule gehe.« Sie nahm ihr Glas und trank. Es schien ihr immer wärmer zu werden. »Du könntest mir doch helfen, Germaine. Was meinst du?«
Germaine blickte auf das Buch in ihren Händen. Sie schien fasziniert vom Gesicht der Frau, die auf dem Umschlag abgebildet war. »Ich hab keine Ahnung, wie man mit kleinen Kindern umgeht, Mary«, antwortete sie abwehrend. »Ich bin kein mütterlicher Typ. lch glaube nicht, daß ich jemals Kinder haben werde.«
Mary drehte sich etwas mühsam auf die Seite, stützte die Ellbogen auf und betrachtete Germaine aufmerksam. Es gab vieles an der Freundin, worüber sie sich Gedanken machte, aber sie hatte es nie ausgesprochen. Es war, als bestünde ein stillschweigendes Einverständnis zwischen ihnen, daß gewisse Dinge unbesprochen zu bleiben hatten. Aber jetzt war sie neugierig, und der Wein hatte ihre Zurückhaltung gelockert.
»Du und Rudy, ihr schlaft oft miteinander, nicht?«
»Ja.«
»Und wie schaffst du's, daß du nicht schwanger wirst?«
Germaines Augen blitzten im Widerschein des Kerzenlichts. »Ich nehme ein Diaphragma.«
»Was ist denn das?«
»Man muß schon katholisch sein, um das nicht zu wissen. Es ist eine Form der Verhütung.«
»Oh!«
»Ja, ich weiß, daß du von Verhütung nichts hältst.«
»Es ist doch auch unnatürlich, oder? Sex ist zur Fortpflanzung da.«
»Sex soll Spaß machen, Mary, und Verhütungsmittel geben der Frau Freiheit. Warum sollen wir Frauen am Sex nicht den gleichen Spaß haben wie die Männer? Welches Gesetz schreibt uns vor, daß wir es ablehnen und ständig Angst haben müssen, schwanger zu werden?«
»Macht es dir Spaß?« fragte Mary leise.
Germaine trank erst einen Schluck Wein, dann sagte sie: »Ja.«
Mary ließ sich wieder auf den Rücken fallen und beobachtete die tanzenden Schatten an der Zimmerdecke. »Ich beneide dich. Deine Eltern sind so liberal, und du hast soviel Freiheit. Ich wette, du hast nie ein schlechtes Gewissen. Das muß herrlich sein. Ich wollte, ich wüßte, wie es ist.« Sie lachte kurz auf. »Es gibt einen Haufen Sachen, von denen ich gern wüßte, wie sie sind.«
Sie schloß die Augen und dachte an die umwerfende Entdeckung, die sie allein in ihrem Bett gemacht hatte. Sie konnte das Wunder des Orgasmus ganz allein herbeiführen und praktisch so oft sie wollte. Die Tatsache, daß sie es dem alten Pater Ignatius beichten mußte, minderte den Genuß nicht im geringsten.
Sie hätte gern gewußt, ob Germaine es auch tat; wie oft sie mit Rudy schlief; wie es war. Sie beneidete sie darum, daß sie es genießen konnte, ohne brav jeden Samstag einem Priester davon erzählen zu müssen. Mary beneidete Germaine um ihre liberale Mutter, die ihr erlaubte, Tampons zu benutzen. Lucille hatte es verboten; die Tampons würden das Jungfernhäutchen verletzen, hatte sie behauptet. Sie beneidete
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