Bitteres Rot
|36| seinen kleinen Enkel da sein zu können. Ein Segen für mich, aber auch für unsere Haushaltskasse. Meine Mutter wickelte wieder Zigarren in der Tabakfabrik, mein Vater arbeitete bei Fossati. Ihr dürftiger Lohn, Baciccias Pension und ein Kredit – jetzt konnten wir uns sogar einen Kühlschrank leisten. Einige Jahre später erfüllten wir uns einen Traum: ein brandneuer Fiat 600. Es waren die frühen Sechzigerjahre, die Wirtschaft boomte und auch die Familie Pagano wollte ihr Stück vom Wohlstandskuchen abbekommen. Triebfeder war meine Mutter. Mein Vater war eher zurückhaltend, als überzeugter Kommunist hegte er zeit seines Lebens Misstrauen gegenüber Konsum und Wohlstand. Er hatte die Illusion, Italien könnte eines Tages sozialistisch werden, nie aufgegeben.
Der Mann wohnte im zweiten Stock eines Hauses ganz in der Nähe der Wohnung meiner Großmutter. Er empfing mich voller Argwohn, wie jeder alte Mensch, der plötzlich einem Unbekannten gegenübersteht, noch dazu einem Hünen von eins fünfundachtzig. Aber die Namen meiner Eltern genügten, um ihn an die schönste Zeit seines Lebens zu erinnern. Zutiefst gerührt bat er mich herein.
Die Wohnung war blitzsauber, alles stand an seinem Platz. Der alte Mann pflegte sie mit Hingabe, fast schon pedantisch. Ordnung schien ihm wichtiger zu sein als alles andere. Ich fragte mich, was ihn antrieb. War es der Wunsch, die Zeit anhalten zu können? Die Angst vor dem Tod? Vielleicht war es aber auch die Furcht, die eigene Identität zu verlieren, wenn die wohlgeordneten Erinnerungen durcheinander und damit die Stützpfeiler seines Lebens ins Wanken gerieten.
Wir gingen in die lichtdurchflutete Küche, wo er mir einen Platz am schlichten Esstisch anbot. Wie selbstverständlich füllte er Wasser in die Caffettiera Napoletana |37| und setzte sie auf die Gasflamme. Ich sah mich um. Neben dem Fenster hing ein Sparkassenkalender aus dem Jahre 1998. Auf der Anrichte stand das gerahmte Farbfoto einer älteren Frau mit silbrigweißen Haaren, die zu einem Knoten hochgesteckt waren. Ihr Lächeln wirkte überrascht, fast ein wenig vorwurfsvoll.
»Meine Amelia, du erinnerst dich doch noch an sie?«
Sosehr ich mich auch anstrengte, dieses Gesicht sagte mir gar nichts.
»Im März sind es zehn Jahre, dass sie tot ist. Wenn ich morgens aufwache und sie nicht neben mir atmen höre, dann tut es immer noch weh. Nicht anders als am ersten Tag, und ich fürchte, so wird es immer bleiben.«
»Das tut mir leid«, stammelte ich leise.
»Amelia und deine Mutter waren Freundinnen. Sie haben zusammen in der Tabakfabrik gearbeitet, bis zum bitteren Ende 1965, als alle entlassen wurden. Danach haben sie sich aus den Augen verloren, so ist es eben, wenn das Leben einen zwingt, neue Wege zu gehen. Dabei wohnten sie sogar in der gleichen Stadt.« Er schüttelte den Kopf. »Wie leicht wird vergessen, dass wir ohne den anderen nichts sind.«
Er hatte recht. Es lag nicht an den lächerlichen Kilometern zwischen Vorort und Innenstadt. Man hatte sich einfach auseinandergelebt. Erst schließen die Fabriken, dann sieht man sich nur noch ab und zu, bis der Kontakt ganz abreißt und jeder seine eigenen Wege geht. Alltag eben. Das Alter entfernt die Menschen voneinander und verurteilt sie zur Einsamkeit. Und auf die Einsamkeit folgt der Tod.
»Deine Eltern«, fuhr er fort, während er das Gas abdrehte und die Caffettiera vom Herd nahm, »haben wir erstmals wieder nach deiner Verhaftung gesehen, in der Zeit, als man dir den Prozess gemacht hat.« Er hielt inne |38| und saß eine Weile gedankenverloren da. Ich hatte bei einer Demonstration eine Pistole vom Boden aufgehoben, um zu verhindern, dass sie in falsche Hände gerät. Das war alles. Leider hatte man mir nicht geglaubt, und ich landete für einige Jahre im Hochsicherheitsgefängnis. So war das in den Siebzigerjahren.«
»Wenn ich dich jetzt so anschaue, kommt die Erinnerung zurück«, fuhr er schließlich fort. »Die Genossen haben sich ja mächtig ins Zeug gelegt. Rechtsanwalt Ricci hat alle Hebel in Bewegung gesetzt, aber die Zeiten waren schwierig und die Richter wollten von den Beweggründen deiner Tat nichts wissen. Aber ich bin überzeugt, dass sein Druck etwas bewirkt hat …«
»Das denke ich auch. Ich habe zehn Jahre bekommen, absitzen musste ich nur fünf.«
»Weißt du, Bacci«, er schien etwas verlegen, »damals hat sich keiner in der Partei offen zu dir bekannt, denn niemand glaubte an deine Unschuld. Kein Mitleid mit
Weitere Kostenlose Bücher