Bitteres Rot
entscheiden, auf welcher Seite er steht. Und Iolanda hatte sich für die richtige Seite entschieden.«
»Wie es scheint, lassen dich die Argumente der anderen Seite völlig kalt.«
Er zuckte mit den Schultern und schüttelte erneut den Kopf. »Das sind alles Tricks, um die Geschichte heimlich umzuschreiben. Außerdem hatte ich schon immer Schwierigkeiten damit, mich als Sieger zu betrachten.«
Ich wollte zum eigentlichen Thema zurückkehren.
»Hat Tilde nach dem Krieg wieder in der Kantine von Fossati gearbeitet?«
»Ich glaube, allein die Vorstellung drehte ihr den Magen um.« Inzwischen hatte er die Brille wieder aufgesetzt. »Die wirkliche Verräterin war eine Kollegin aus der Kantine, eine behinderte junge Frau, der Tilde vertraut hatte. Für sie musste Iolanda sterben.«
»Es gibt noch etwas, das ich mir nicht erklären kann«, sagte ich und leerte meinen Martini. »In unserem ersten Gespräch schien Gino Bavastro von all dem nichts zu wissen.«
»Das stimmt. Gino hat die ganze Wahrheit erst sechzig Jahre später erfahren, bei unserem Treffen letzte Woche.« Er lächelte zufrieden. Ein Geheimnis für sich behalten zu können, war für einen alten Kämpfer immer noch eine heilige Pflicht. Genau wie damals im Keller des Studentenwohnheims, als Verhörspezialisten der Schwarzen Brigaden oder der SS gefangen genommene Partisanen zu Tode |226| folterten, um ihnen die Namen der Kampfgenossen abzutrotzen.
»Aber Professor Hessen hat doch schon vor zwanzig Jahren mit ihm darüber gesprochen«, fuhr ich fort.
»Gino hat Biscia und Tilde erst nach dem Krieg kennengelernt, aber unter anderen Namen.«
Ich horchte auf. »Aber Dria Ratto hat doch Namen genannt?«
»Dein Klient spielt ein falsches Spiel. Obwohl Dria sehr krank war, hat er eisern geschwiegen. Als Hessen hierherkam, kannte er nur einen Namen, nämlich den, den ihm seine Tante genannt hatte.«
»Tilde?«
»Ja, Tilde!« Seine Faust krachte auf den Tisch und ließ die Gläser klirren.
»Aber wie konnte Hessen dann …« Jetzt war ich völlig verwirrt.
»Auf die Namen kommen? Einer von uns muss es ihm gesagt haben, eine andere Erklärung gibt es nicht!«
»Und wer?« Ich war sicher, die Antwort schon zu kennen.
Er verzog den Mund zu einem verbitterten Lächeln und zuckte mit den Schultern. »Was hat das jetzt noch für eine Bedeutung?« Er schloss die Augen und seufzte tief. »Niemand wird ihn dafür erschießen. Wer auch immer es war, derjenige muss das mit seinem eigenen Gewissen ausmachen.« Schweigend betrachtete ich sein von tiefen Furchen durchzogenes Gesicht und die von Arthritis verkrüppelten faltigen Hände. Er starrte mich an, nahm mich offensichtlich aber gar nicht wahr. »Wusste Tilde, dass ihr ein Attentat auf das Kino geplant hattet?«
»Ich habe es ihr gesagt, bevor sie verschwunden ist.«
»Dann hat sie ihn wissentlich in den Tod geschickt.«
»Das glaube ich nicht. Tilde ist schon vor dem Attentat |227| abgereist. Wie hätte sie voraussehen können, dass Hessen ausgerechnet an diesem Tag ins Kino gehen würde.«
»Sie hätte ihn aber warnen können.«
»Sie musste sich entscheiden: er oder wir. Nachdem sie verschwunden war, hatte der Hauptmann keinen Grund mehr, uns zu schützen. Hätte Tilde geredet, dann wäre die Aktion gescheitert und unsere Kameraden wären erschossen worden.«
Mir kam der Prozessbericht über Engel in den Sinn, der Mann, der für das Gemetzel am Turchino-Pass verantwortlich war. Darin waren auch die Einzelheiten zum Ablauf des Attentats zur Sprache gekommen.
»Der Mann, der die Bombe deponierte, hat eine Wehrmachtsuniform getragen, er war blond und hatte blaue Augen. Das klingt nach Biscia, oder?«
Olindo warf mir ein verschwörerisches Lächeln zu, als ob er diese Frage schon erwartet hätte. Er schüttelte den Kopf und sagte: »Als deutscher Soldat wäre er perfekt gewesen. Wir haben ihn gefragt, aber er hat abgelehnt.«
»Dann ist er es gar nicht gewesen.«
»Manch einer glaubte, seine Zeit bei der GAP sei an dem Tag zu Ende gegangen, als ihm bewusst wurde, dass er eine Unschuldige erschossen hatte, aber das stimmte nicht. Ich könnte behaupten, er hätte sich innerlich von uns verabschiedet, als wir das Todesurteil gefällt haben, aber das ist nur die halbe Wahrheit und ich bin ein ehrlicher Mann. Biscia hat den Glauben an unsere gemeinsame Sache in dem Moment verloren, als er von Tilde und dem deutschen Offizier erfuhr. Ich trage dafür die volle Verantwortung, das werde ich mir nie
Weitere Kostenlose Bücher