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Bitteres Rot

Bitteres Rot

Titel: Bitteres Rot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruno Morchio
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den anderen Passanten zu unterscheiden, allein wegen der vielen Kinder, die um sie herumsprangen.
    »Du bist mein Gast.« Olindos Ton duldete keinen Widerspruch.
    Ich bestellte einen Martini mit Eis. Die Kellnerin war um die zwanzig, dunkler Teint, schwarzes Haar, ebensolche Augen. Sie wandte sich an Olindo und fragte: »Und für Sie?«
    »Einen Biancoamaro.«
    Sie zog fragend die Augenbrauen hoch. Sie wusste nicht, was er meinte. Er lächelte sie freundlich an und erklärte: »Ein Glas Weißwein mit ein wenig Bitter.«
    »Averna oder Santamaria?«
    »Nein, einen richtigen Bitter, keinen Kräuterlikör.«
    »Campari?« Sie entspannte sich, und als der alte Mann nickte, fügte sie in professionellem Ton hinzu: »Haben Sie beim Wein einen besonderen Wunsch?«
    |223| »Ein Frizzantino passt.« Seine wässrigen Augen folgten ihr wehmütig, als sie in die Bar zurückging.
    »Sie ist ein bisschen wie Tilde. Ich erinnere mich noch, als wäre es gestern gewesen. Wir hatten uns in der Bar 900 am Pontinetto getroffen und zwei Biancoamaro bestellt. Sie war entsetzt über meine Pläne. Aber sie war eine Kämpferin und am Ende war sie es, die die Initiative ergriffen und vorgeschlagen hat, sich an den Deutschen heranzumachen.«
    Mein Blick war voller Mitgefühl, was ihm nicht verborgen blieb. Er sagte: »Du siehst aus wie ein geprügelter Hund. Es tut mir wirklich leid.«
    »Mein Großvater hat mir den Krieg immer als das Schlimmste geschildert, was man sich vorstellen kann.«
    »In der Tat, aber wir hatten etwas, was anderen Menschen fehlt.«
    »Und das wäre?«
    »Hoffnung. Hoffnung auf ein besseres Leben. Und das war durchaus kein Hirngespinst. Während wir die Nazis und ihre Speichellecker bekämpften, die stärkste Armee der Welt, war das am Boden liegende Italien dabei, wieder aufzustehen.«
    »Willst du damit sagen, ihr hättet genauso gut am Flussufer sitzen und abwarten können?«
    »Im Gegenteil, es war uns eine heilige Pflicht, der Welt zu zeigen, dass hier eine neue Nation entstand. Unsere einzige Chance war der Kampf, und der Preis, den wir zahlen mussten, war, zu töten oder zu sterben. Denn die Nation wurde nicht geboren, um eine Diktatur zu verjagen und durch eine andere zu ersetzen.«
    Die Kellnerin brachte den Martini und den Biancoamaro, dazu eine Auswahl an Nüssen und Kräckern. Während sie alles auf dem blauen Plastiktisch abstellte, konnte Olindo seinen Blick nicht von ihr lassen, voller |224| Bewunderung, aber auch mit einem Hauch Wehmut. »Tatsächlich, wie aus dem Gesicht geschnitten«, bekräftigte er, als sie gegangen war.
    »Was war Tilde für ein Mensch?« Ich wollte es noch einmal von ihm wissen.
    Er nahm die Brille ab und legte sie neben seinen Biancoamaro, dann wischte er sich über die Augen. Als er mich danach wieder ansah, schienen seine Pupillen noch trüber, als wäre jegliches Licht erloschen. Er seufzte, sein leerer Blick schien sich im Nebel der Unendlichkeit zu verlieren.
    »Was soll ich sagen. Sie war eine großartige, lebensfrohe Frau, nach der schlimmen Enttäuschung aber voller Misstrauen und tief deprimiert. Kein Wunder nach allem, was passiert war. Nach Iolandas Tod verlor sie jede Hoffnung. Obwohl sie sich nur oberflächlich gekannt hatten, hat diese Frau Tildes Leben einen anderen Sinn gegeben.«
    »Iolanda war eine Verräterin.«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Iolanda hat immer zu uns gestanden, uns nie verraten. Nur ein Mensch hat ihr wirklich vertraut: Tilde. Sie konnte sich ihren Tod nie verzeihen.«
    »Biscia hat sie erschossen, oder?« Ich musste die Frage stellen.
    Er nickte bedächtig, dann umfasste er sein Glas mit beiden Händen, als suchte er Halt.
    »Sie war unschuldig. Der Deutsche hatte uns auf eine falsche Fährte gelockt. Wir haben nie herausgefunden, warum. Dieser Mann war uns gegenüber immer ehrlich gewesen, mit seinen Informationen hat er vielen unserer Kameraden das Leben gerettet.«
    »Hast du Tilde nicht danach gefragt, als ihr euch nach der Befreiung wiedergesehen habt?«
    Er nippte an seinem Biancoamaro, das Glas noch immer in beiden Händen. Als er es wieder abstellte, schüttelte |225| er den Kopf. »Niemand hatte die Kraft, diese Geschichte wieder aufzurollen. Vielleicht wollte man Tilde schützen, vielleicht auch sich selbst.«
    »Obwohl Iolanda unschuldig war, wurde sie hingerichtet, noch dazu von der falschen Seite.«
    Olindo nickte. »Wenn man stirbt, gibt es keine richtige oder falsche Seite. Man stirbt und Schluss. Aber wer lebt, der muss sich

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