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Bitteres Rot

Bitteres Rot

Titel: Bitteres Rot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruno Morchio
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klingelte.
    |220| Noch ganz benommen griff ich nach dem Telefon, ohne auch nur zu ahnen, wie spät es war, wo ich mich befand oder was um mich herum passierte. Ich hielt den Hörer ans Ohr und merkte, dass ich schweißgebadet war.
    »Bacci, hier Olindo. Habe ich dich geweckt?«, hörte ich eine kratzige Stimme.
    Ich öffnete die Augen und versuchte, mich auf einem Ellenbogen abzustützen. Durch die Ritzen des Rollladens drang goldfarbenes Licht, der in der Luft flirrende feine Staub schien zu tanzen, was dem dämmrigen Raum eine unvermutete Heiterkeit verlieh.
    »Wie spät ist es?«, fragte ich mit schleppender Stimme.
    »Halb neun, wir alten Leute sind genügsam und brauchen nur wenig Schlaf. Vielleicht brauchen diejenigen, die den fleischlichen Genüssen noch nicht abgeschworen haben, ein paar Stündchen mehr.« Er lachte. »Es ist ein herrlicher Morgen, wenn du nichts anderes vorhast, dann lade ich dich auf einen Aperitif ein.«
    »Wo?«
    »Treffen wir uns doch um elf in der Preti-Bar in der Via Garibaldi. Ich meinte natürlich die Via Sestri, so heißt sie ja heute.«
    Die Fußgängerzone von Sestri Ponente: alteingesessene Geschäfte, bei denen meine Mutter schon eingekauft hatte, wie Bagnara, Bruzzo und Guano & Dodero. Tempel des guten Geschmacks, die man damals wie heute mit einer gewissen Ehrfurcht betrat, Reminiszenzen an die gute alte Zeit. Auf dem Kopfsteinpflaster flanierten junge Leute auf der Suche nach dem perfekten Glück. In der Via Sestri gingen die Frauen einkaufen, die Männer diskutierten über Fußball und Politik. Für die Alten war sie die Via Garibaldi geblieben. Mit diesem klangvollen Namen schmückte sich jetzt die ehemalige Strada Nuova in der Innenstadt Genuas, dort wo sich die prachtvollen |221| Palazzi aneinanderreihten. Wenn die
sestresi
, egal ob jung oder alt, in die Innenstadt gehen, sagen sie auch heute noch: »Wir gehen nach Genua.«
    Es war noch eine halbe Stunde Zeit bis zu meiner Verabredung und ich hatte Lust auf einen Spaziergang. Ich stellte die Vespa auf der Piazza Poch ab, die frühere Piazza dei Gattini, und blieb stehen, um einen Blick durch das offene Gittertor auf die Villa Rossi mit ihren mächtigen Steineichen, den uralten Schirmpinien und den prächtigen Palmen und Magnolien zu werfen. Fasziniert betrachtete ich, wie sie sich im Wind wiegten. Dann ging ich zur restaurierten Fassade der Tabakfabrik hinüber, wo meine Mutter zwanzig Jahre lang als Zigarrendreherin gearbeitet hatte. Das Gebäude war hübsch herausgeputzt, was ihr bestimmt gefallen und Lust gemacht hätte, wieder dort zu arbeiten. Vielleicht als Angestellte oder in der Bibliothek. Ich kehrte zur Piazza zurück, überquerte den Pontinetto und schlenderte dann die Via Sestri entlang in Richtung der Bar, wo Olindo auf mich wartete. Auf der Straße herrschte reges Treiben. Eine Gruppe Senegalesen hatte Decken auf dem Pflaster ausgebreitet, auf denen sie ihre Waren präsentierten.
    Ich war seit Jahren nicht mehr hier gewesen, deshalb hatte ich Mühe, die Straße wiederzuerkennen, die ich in Erinnerung hatte. Auf beiden Seiten drängten sich die postmodernen Konsumtempel, steinerne Zeugen des Konsumterrors unserer Zeit. Getrieben von Expansionsgelüsten und Gewinnstreben waren Individualismus, Intelligenz und Menschlichkeit auf der Strecke geblieben. Handyläden voll von unsinnigem Hightech-Schnickschnack, Focaccerias, Bio-Drogerien, Eiscafés und Nobelboutiquen. Bankschalter neben Bankschalter, Immobilienmakler und Franchisingfirmen, bei denen der Franchisegeber lediglich die Gewinne einstreicht, aber |222| kein Risiko trägt. In der globalisierten Welt gab es keine weißen Flecken mehr, selbst das »rote« Sestri machte da keine Ausnahme. Den Profiteuren war nichts heilig. Das Sestri der Arbeiter und mein 68er-Sestri waren Vergangenheit. Die Stadt war genetisch mutiert. Für das Überleben zahlte Sestri einen hohen Preis, auch wenn die jungen Leute, denen ich begegnete, sich darum überhaupt nicht zu kümmern schienen. Zu verführerisch waren die Angebote in den Schaufenstern.
    Um elf saßen Olindo und ich an einem Tisch im Freien. Die Jacken hatten wir bis oben zugeknöpft, der Wind blies die kalte Luft aus den Bergen bis ans Meer. Trotzdem hofften wir, dass die Sonne unsere alten Knochen etwas aufwärmen würde. Ich beobachtete die Passanten, die auf der Straße unterwegs waren. Auffällig viele Ausländer waren darunter, vorwiegend Südamerikaner mit dunkler Haut und Mandelaugen. Es war leicht, sie von

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