Bitterfotze
bezahlen.«
»Warum denn?«, fragte Sigge weiter und mir wurde klar, dass er es wirklich nicht verstand, und ich begann mich zu fragen, ob ich es verstand.
»Man muss arbeiten«, versuchte ich und hörte selbst, wie hohl es klang.
»Warum denn?«, fragte Sigge, und ich wusste plötzlich, dass ich keine Antwort hatte. Irgendwie wurde es dadurch noch deutlicher, dass niemand einen zwingt. Dass es eine eigene, selbstständige Entscheidung ist. Aber das konnte ich Sigge nicht sagen. Dass Johan in Växjö sein wollte.
Es ist so hoffnungslos, wenn man daran denkt, dass es immer tausend Gründe gibt, nicht gleichberechtigte Entscheidungen zu treffen. Wir brauchen das Geld.
Nein, brauchen wir nicht, wir haben auch so genug. Wir brauchen uns gegenseitig, und dein Kind braucht dich!
Ich gehöre auch zu denen, die ihr Kind mit dem Vater fotografieren, um dessen Fehlen zu kompensieren.
Wenn es schon keine harmonische Gegenwart gibt, muss man wenigstens harmonische Erinnerungen herstellen.
Und dann, Mitte Juni, kurz vor den Ferien, fing Sigge damit an, den Kopf gegen die Wand zu schlagen. Es passierte, wenn er wütend oder traurig war, und das war er ziemlich oft.
Er war einfach müde nach einem Jahr in der Kita mit einer viel zu kurzen Unterbrechung an Weihnachten, und er brauchte einfach Ferien. Aber das wussten wir in diesem Moment nicht, wir waren nur verzweifelt angesichts dieser heftigen Reaktionen.
Sigge ist normalerweise nicht oft wütend oder weinerlich. Aber jetzt wollte er weder spielen noch schmusen oder Unsinn machen. Er lief umher wie eine Gewitterwolke, und wenn wir zu ihm sagten, er solle kommen und sich anziehen, dann schlug er mit dem Kopf gegen die Wand.
Zwei Wochen später fuhren wir nach Gotland, wo wir für drei Wochen ein Haus gemietet hatten, und schon am ersten Morgen hörte Sigge mit seinem Kopf-an-die-Wand-Schlagen auf. Er wachte auf wie ein Sonnenschein, er wollte schmusen und den Ameisenhaufen untersuchen, der unter einem Baum in der Ecke des Gartens war.
Es war lächerlich einfach. Wir brauchten Zeit miteinander, alle drei. Nach einem anstrengenden Jahr mit Ehekrise, in dem wir, statt innezuhalten und nachzudenken, einfach weitergearbeitet hatten. Und dabei immer gereizter und müder geworden waren.
Wie dumm darf man sein?
Was treffen wir nur für blöde Entscheidungen? Setzen bescheuerte Prioritäten, die verheerende Konsequenzen haben. Die alles zerstören können, was wichtig ist.
Abends, wenn Sigge eingeschlafen war, saßen wir nebeneinander in der Hängematte und redeten und schauten auf die Pferdeweide. Ganz, ganz lange, bis es dunkel wurde und zu kalt, um draußen zu sitzen. Wir schauten uns erstaunt an und fragten uns, warum wir das nicht schon früher gemacht hatten. Wir waren erstaunt und erfreut, dass wir so viel Gesprächsstoff hatten. Fast als würden wir uns ganz neu kennenlernen.
Am Tag radelten wir ans Meer, und nachmittags, wenn Sigge ein Stündchen schlief, liebten wir uns.
Dort im Haus auf Gotland fanden wir Zeit, die Kratzer zu heilen, die entstanden waren. Oder besser: Wir achteten darauf, Zeit füreinander zu haben. Was wir im Alltag offenbar ganz schlecht können.
Gerade eben, im Liegestuhl, bekam ich eine SMS von meinem Chef beim Radio. Ich hatte ihm am Vormittag eine SMS geschickt mit einer den Job betreffenden Frage. Ich bekam nämlich plötzlich Angst vor all der Arbeit, die auf mich wartet, wenn ich nach dieser Woche wieder nach Hause kam. Und nun antwortete Richard.
»Darling! Denk jetzt nicht an die Arbeit. Ich mach das schon! Genieß es nur, du hast es wirklich verdient. Gruß aus einem grauen, kalten Stockholm.«
Peinlicherweise bekomme ich von solcher Herzlichkeit Tränen in den Augen. Ich weiß nicht genau, warum, ich fang einfach an zu heulen und komme mir klein vor. Ich bin wohl nicht genug bemuttert worden, würde Niklas, mein Therapeut vermuten. Ja, das könnte sein, aber noch weniger bin ich bevatert worden. Aber darüber kann man nicht reden, es gibt keinen psychologischen Begriff für die Fürsorge, die Väter ihren Kindern geben. Vielleicht weil man von ihnen solche Großtaten nicht erwartet?
Aber immerhin, Richard und der Orangenmann. Es gibt noch Hoffnung für die Männlichkeit.
Heute Morgen beim Frühstück sah ich wieder den gestikulierenden Mann. Der so nett aussah. Heute Morgen sah ich ihn also wieder, aus der Nähe. Er kam an meinem Tisch vorbei, als er sich Kaffee holte, und jetzt sah ich, dass er einen Zombieblick und einen viel
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