Bittersuess
gerade tut, wo er ist. Arbeitet er wieder? Ich vermute es zumindest. Er wird die Fassade der Normalität wohl aufrechterhalten wollen.
Oder ist er zurück in Argentinien? Aber wäre das nicht zu auffällig? Wenn er als der Bruder des Hauptverdächtigen so schnell abreisen würde? Aber man verdächtigt Nicolas doch nicht. Man bringt ihn nicht in Zusammenhang mit meiner Entführung – oder doch?
Aber das kann er nicht wissen, vielleicht denkt er, ich würde doch gegen ihn aussagen…
Nein – diesen Gedanken schiebe ich entschlossen von mir. Ich denke, nein, ich hoffe, dass er weiß, dass ich das nicht tun würde.
Ich mir schwirrt alles wild durcheinander, es poltert wirr in meinem Kopf herum.
„Ich lege mich ein bisschen hin“, erkläre ich meinen Eltern, als wir die Halle betreten.
„Geht es dir nicht gut?“, meine Mutter ist sofort neben mir und mustert mich besorgt.
„Doch, Mama. Alles okay“, lächle ich ihr zu und selbst diese kleine Geste ist für mich eine geheure Kraftanstrengung.
„Lass sie doch einfach mal in Ruhe“, geht Jonas dazwischen, ich schaue ihn dankbar an.
„Ich mach mir doch nur Sorgen“, rechtfertigt sie sich.
„Das musst du nicht“, versuche ich sie zu beruhigen, dann gehe ich die Treppen hinauf.
Ich ziehe mir nur die Schuhe aus und lasse mich aufs Bett plumpsen. Das kleine Medaillon ist mein kostbarster Schatz und ich greife danach. Zärtlich streichele ich darüber, lese immer wieder diese zwei wunderbaren Worte: ‚Te quiero’.
Die Tränen laufen über mein Gesicht, ohne dass ich es wirklich registriere. Wie soll ich es bloß ohne ihn aushalten? Wie soll es weitergehen?
Das Telefon auf dem Zimmer klingelt und genervt gehe ich ran.
„Stella?“, höre ich die aufgeregte Stimme von Jenny.
„Jenny!“, ich freue mich wirklich, sie zu hören. Sofort bekomme ich ein schlechtes Gewissen, weil ich mich nicht schon eher bei ihr gemeldet habe.
„Oh Stella, bist du okay? Ich bin umgekommen vor Sorge“, stammelt sie ins Telefon.
„Ja, alles in Ordnung“, schniefe ich und wische mir schnell die Tränen aus dem Gesicht. Wie blöd eigentlich, sie kann mich ja nicht sehen. Und dass ich heule, hört sie sowieso.
„Warum weinst du?“, fragt sie dann auch prompt.
„Nichts, es ist nichts. Nur so“, lüge ich dilettantisch.
„Soll ich vorbeikommen? Magst du?“
„Ja, das wäre schön“, nicke ich.
„Bin gleich da“, tönt es noch aus der Leitung, dann hat sie aufgelegt.
‚So geht das nicht’ , schimpfe ich mit mir. Ich spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht und versuche mich halbwegs normal aussehen zu lassen.
Jenny ist meine beste Freundin und sie hat ein Gefühl für meine Stimmungslagen. Aber ich habe eine gute Ausrede für meinen desolaten Zustand. Es gibt wohl kaum eine bessere, als d ie, gerade eine Entführung hinter sich zu haben, oder?
Eine halbe Stunde später ist sie da. Sie sagt erstmal nichts, sondern fällt mir nur stürmisch um den Hals.
„Ach Stella, ich habe mir solche Vorwürfe gemacht“, schluchzt sie laut. „Und Markus sowieso…“
„Du? Aber warum denn?“, ich schiebe sie sanft von mir und streichele durch ihr verheultes Gesicht.
„Ich hätte mich gar nicht auf den Typen einlassen dürfen. Und Markus meinte, er hätte nicht gut genug auf uns aufgepasst“, weint sie verzweifelt.
„Süße“, ich ziehe sie zu meinem Bett und drücke sie sanft darauf. „Ihr könnt überhaupt nichts dafür. Wenn es an dem Abend nicht passiert wäre, dann hätten sie mich woanders geschnappt. Wenn einer ein schlechtes Gewissen haben müsste, dann ich. Ich habe dich in Gefahr gebracht“, rede ich auf sie ein.
„So ein Quatsch, Stella“, ruft Jenny empört.
„Quatsch?“, ich lächele sie an. „Und was ist das dann bitte, was du gerade von dir gegeben hast?“
Sie schüttelt den Kopf. „Und ich weiß fast gar nichts mehr von dem Abend. Nur, dass mich dieser Kerl angequatscht hat. Dann ist da nichts mehr…“
„Mach dir keine Vorwürfe, bitte“, sage ich sanft.
Sie will etwas sagen, stoppt dann aber ab. Statt einer Antwort umarmt sie mich wieder heftig. „Ich wäre fast gestorben vor Sorge, Stella. Ich hatte so eine Angst um dich. Haben sie dir etwas getan? Jonas hat mir schon erzählt, dass es zwei Kerle waren.“
„Ich hab ein paar blaue Flecke abbekommen, aber sonst nichts“, antworte ich.
„Wo haben sie dich denn eingesperrt?“
Ich bin alarmiert. Bei der Polizei habe ich nicht die Fabrikhalle erwähnt. „In einer
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