Bittersuess
inständig.
„Natürlich nicht, Martin. Ich bin doch sowieso an die Schweigepflicht gebunden“, versichert Professor Marquardt ihm.
„Wir warten auf dem Flur“, sagt meine Mutter hastig. Sie ist ganz aufgeregt und tut mir leid. Es muss schrecklich für sie gewesen sein in den letzten zwei Wochen. Auch wenn sie furchtbar nervend sein kann mit ihrer Gluckenhaftigkeit, dass sie jetzt so reagiert, kann man ja durchaus verstehen.
„Was hat man dir angetan, Stella?“, fragt Helmut Marquardt mich dann in einem Untersuchungszimmer.
„Geschlagen und getreten. Nichts weiter“, antworte ich wahrheitsgemäß.
„Ich sehe schon“, murmelt er und betrachtet sich näher die kleinen Narben an meiner Augenbraue. „Wurde das geklammert?“
„Ja“, antworte ich und schlucke heftig. Würde das einen Hinweis auf einen Arzt geben? Mir wird schlecht bei dem Gedanken daran. Sollte Nicolas Hilfsbereitschaft ihm jetzt zum Verhängnis werden? Das darf nicht sein, bitte, bitte nicht !
„Hat das einer deiner Entführer gemacht?“
„Ja“, ich versuche, mir meine Aufgewühltheit nicht anmerken zu lassen.
„Nun ja, das ist ja auch nicht weiter schwer. Jeder Betreuer beim Sport kann das…“, sagt er nachdenklich und ich atme ein bisschen auf. „Das verheilt ganz gut, man wird später fast nichts mehr davon sehen“, redet er dann weiter. „Wo hat man dich getreten?“
„In den Bauch und etwas höher“, gebe ich ihm Auskunft. Ich hoffe inständig, dass das Thema ‚Klammern’ nicht weiter ausgeführt wird.
„Darf ich?“, er deutet auf meine Bluse und ich schiebe sie etwas hoch. Auch die Hämatome dort sind verblasst. „Hast du irgendwelche Beschwerden?“
„Nein, ich fühle mich gut, wirklich“, erkläre ich ihm.
„Du bist sehr dünn“, stellt er weiterhin fest.
„Ich habe wenig gegessen, aber auch das ist jetzt alles wieder in Ordnung“, versuche ich ihn zu beruhigen.
„Ich möchte dich wiegen und dann das Gewicht in zwei Wochen noch einmal kontrollieren, Stella. Nur um sicher zu gehen, dass du von diesem Erlebnis keine Essstörung behältst.“
„Bestimmt nicht“, versichere ich ih m.
„Wir werden das im Auge behalten. Ich muss dich das noch einmal fragen: Hat man dich sexuell missbraucht?“, er mustert mich streng.
„Nein, hat man nicht“, ich schüttelte heftig den Kopf.
„Würdest du dich bitte diesbezüglich untersuchen lassen? Wir haben eine sehr nette Ärztin hier.“
„Warum glauben Sie mir nicht?“
„Es ist schon vorgekommen, dass Opfer von Gewalttaten was das angeht geschwiegen haben“, erklärt er mir.
„Wenn es sein muss…“, ich rolle mit den Augen und ergebe mich meinem Schicksal.
Die Ärztin ist wirklich sehr nett und da ich noch leichte Blutungen habe, bringen wir die Untersuchung schnell hinter uns. Sie fragt nach, wann meine letzte Periode begonnen hat und bei dem Gedanken daran, wo ich sie vor vier Tagen bekommen habe, macht sich ein Kloß in meinem Hals bemerkbar.
Sie teilt Professor Marquardt das Ergebnis mit und er bittet mich noch einmal zu sich.
„Stella, ich würde es begrüßen, wenn du dich mit einer Psychotherapeutin unterhalten würdest“, empfiehlt er mir. „Ich schreibe dir ein paar Adressen auf.“
„Danke, aber das wird nicht nötig sein“, erkläre ich ihm entschieden.
„Stella“, er redet jetzt ganz sanft mit mir. „Wenn du meinst, dass es dir nicht hilft, dann kannst du es ja jederzeit wieder abbrechen. Versuch es doch wenigstens. Auch wenn du vielleicht jetzt meinst, du kämst auch so klar, es können immer wieder Situationen auftreten, in denen das Geschehene wieder hervorkommt, wenn es nicht aufgearbeitet ist.“
„Das geht schon “, beharre ich. Das fehlte mir gerade noch, dass jetzt so ein Psychofuzzi mir die Ohren vollquatscht. Ich will einfach nur nach Hause, in der Ecke sitzen und traurig sein. Mehr nicht. Aber natürlich können das die anderen nicht wissen. Und so muss es auch bleiben.
„Ich werde die Adressen deinem Vater aushändigen. Dann kannst du bei Bedarf darauf zurückgreifen“, seufzt der Arzt.
„Wenn Sie meinen“, ich zucke nur mit den Schultern und stehe auf.
Meine Eltern springen sofort auf und stürmen uns entgegen, als wie den Flur betreten. Nur Jonas bleibt äußerlich sehr gelassen.
„Alles soweit in Ordnung“, lächelt Professor Marquardt ihnen zu. „Nur ein paar blaue Flecken, ansonsten ist alles okay.“
„Gott sei Dank“, meine Mutter schluchzt erleichtert auf und drückt mich wieder
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