BitterSueß
nötigen Informationen zu kommen.
Fast.
Zuerst schien es eher nicht so, denn die entsprechenden Dateien auf dem Computer waren verschlüsselt und viele Ordner, in denen ich Relevantes vermutete, waren ins Büro des neuen Chefs gewandert, der alles wie ein Zerberus bewachte.
Meine Projektakte gab nichts her. Klarer Fall: die Daten, die ich suchte, besaßen Zündstoff und wurden geheimgehalten.
Während ich noch überlegte, welche Strategie ich am besten einschlagen sollte, spielte mir der Zufall in die Hände. Den ganzen Tag über war das Telefon ziemlich ruhig geblieben, und als es läutete und ich mich wie gewohnt meldete, hörte ich die Stimme eines »Verschollenen«: Andreas Young, der »Beurlaubte«, also im Grunde schon abgeschossene Projektleiter.
Ich vermisste ihn manchmal, und so war die Freude in meiner Stimme nicht geheuchelt, als ich ihn begrüßte.
»Herr Young! Wie geht es Ihnen?«
»Ich freue mich, Ihre angenehme Stimme zu hören, Janet«, erwiderte er charmant. »Ansonsten muss ich leider sagen: nicht so prickelnd.«
Er war der einzige, der mich mit Vornamen ansprach und nicht »Frau S.« sagte wie die anderen, das passte zu seiner lockeren Art, war aber letztlich mit ein Punkt, der dazu beigetragen hatte, ihn ins Abseits zu katapultieren.
»Das tut mir leid«, sagte ich und meinte es wiederum ehrlich.
»Ja, ich fand heute Morgen Blut in meinem Stuhl«, sagte er lakonisch.
»Oje – und, lassen Sie sich vom Arzt durchchecken?« Ich kannte ihn gut genug um zu wissen, dass er das nicht tun würde. Erst recht hatte es keinen Sinn, Andy Young etwas von ‚Burn-out-Syndrom’ zu erzählen. Ich verzichtete also darauf und blieb am Ball, als er meine Frage ignorierte und stattdessen seinerseits zur Sache kam: »Janet, weshalb ich anrufe – würden Sie mir einen großen Gefallen tun?«
»Sicher, wenn ich kann.«
»Ich brauche dringend das erste Drittel der Projektakte, können Sie mir das kopieren? Und auch die Jour-Fixe-Protokolle von April bis Juni.«
»2002?«
»Ja.«
»Geht klar, Chef.«
Dass ich ihn so ansprach, zeigte ihm recht deutlich, wo ich stand.
»Sie sind ein Schatz, Janet.« Ich hörte seiner Stimme die Erleichterung förmlich an. Er schien durchzuatmen. Für einen QUASI-Projektleiter war er wirklich verdammt menschlich.
»Soll ich Ihnen die Papiere per Post senden?«
»Hmmm …«, er zögerte einen Moment lang, »nein, zu unsicher und dauert zu lang. Janet, fahren Sie denn immer noch mit dem Zug zur Arbeit?«
»Ja.«
»Dann hinterlegen Sie den Umschlag bitte in meinem Schließfach. Den Code kennen Sie?«
Ich bestätigte das und dachte bei mir mit einer Mischung aus Erregung und Entsetzen: So extrem schätzt er die Lage ein? Allmählich komme ich mir wie eine Geheimagentin vor. James Bond ließ grüßen …
»Und wie stehts sonst beim Projekt?«, erkundigte er sich. »Sägen alle fleißig an meinem Stuhl?«
»Moment, Herr Young. Ich schließe nur eben die Tür.«
Jetzt wurde es absolut brenzlig, und da wollte ich einfach keine Lauscher am Türspalt oder so haben. Zwar waren nicht mehr allzu viele Kollegen da, aber ich ging lieber auf Nummer Sicher.
»Der Neue ist ein Mensch gewordener eiserner Besen«, berichtete ich dann, »und die Stimmung äußerst angespannt. Fehler und Verzögerungen häufen sich, und jeder scheint jeden zu belauern, während der Kunde schafsmäßig zumeist gar nichts schnallt und jede noch so durchsichtige Erklärung für das Nicht-Funktionieren des Programms schluckt. Und »der Q« schließlich lässt mit ironischer Distanz seine milden Ermahnungen aus der Ferne auf uns herabfallen wie Manna; die Zentrale denkt meiner Ansicht nach, wir seien Labortiere bei einem mittelmäßig interessanten Experiment.«
Ich hatte es fertiggebracht, dass mein Chef lachte, und das fand ich prima; schließlich sagte man doch, Lachen sei gesund.
»Mir geht’s direkt besser«, sagte er spontan und bestätigte diese Theorie somit. Schnell nutzte ich die Gunst der Minute und meinte: »Wenn das so ist, können Sie vielleicht auch was für mich tun? Wo finde ich die Fakturierungen bzw. wer außer dem Interimsprojektleiter besitzt eine Kopie davon? Ich nehme mal an, Sie haben diese Unterlagen nicht.«
Herr Young fragte mich nicht, weshalb ich so scharf darauf war – natürlich konnte er es sich denken, er war ja nicht blöde. Ob ich ihm vertraute? Na ja, ein Stück weit schon – immerhin benutzte er mich ja nun auch als seine Geheimnisträgerin.
Seine Stimme
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