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Bittersüße Heimat.

Bittersüße Heimat.

Titel: Bittersüße Heimat. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Necla Kelek
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Schwaben«, auch wenn ihre Geschäftstüchtigkeit gelegentlich als Bauernschläue verspottet wird.
    Vom Markt lernen
    Worin besteht nun die Modernität, dieser neue erfolgreiche merkantile Geist? Die von ES I untersuchten Branchen sind die Zucker-, die Möbel- und die Textilproduktion.
    Tuche produzierte man in Kayseri seit 1935 in einer Baumwollspinnerei, die von der Sowjetunion finanziert und ausgerüstet wurde. Betrieben wurde die Fabrik von der staatlichen Sümerbank. Das Unternehmen stellte »amerikanisches Tuch« her und übte ein Verkaufsmonopol für alle Textilprodukte in der Türkei aus, zu vom Staat festgelegten Preisen. Nach dem Zweiten Weltkrieg sahen Kaufleute aus Kayseri ihre Chance gekommen, der Firma Konkurrenz zu machen, denn der Käufermarkt wurde durch die rasch wachsende Bevölkerung immer größer. Erfolg stellte sich aber erst ein, als sich Mitte der 1980er Jahre die Regierung Özal entschloss, den türkischen Markt für internationale Joint Ventures zu öffnen. Die private Textilfabrik aus Kayseri fand in Levi’s, einem der weltgrößten Jeansproduzenten, einen Partner, engagierte junge, im Ausland ausgebildete Ingenieure und orientierte ihre Produktion an den internationalen Märkten. Inzwischen ist es nicht nur dieser einen Firma, sondern auch anderen Unternehmen gelungen, eigene Produkte, eigene Kreationen international zu vermarkten, wie die Jeansmarke Mavi oder das Herrenmode-Label Vacco.
    Ähnlich erfolgreich verlief die Deregulierung in der Zuckerindustrie. 1935 als staatliches Monopol gestartet und jahrzehntelang zentral geführt, konnten die Fabriken mit festen Abnahme- und Abgabepreisen und sicheren Profiten rechnen. Ineffektive Raffinerien wurden aus beschäftigungspolitischen Gründen gehalten; das ganze System überlebte nur durch Subventionen. Auch hier änderte sich die Lage erst im Jahr 2000, als im Zuge einer Landwirtschaftsreform private Fabriken entstanden und Genossenschaften sich auf einem freien Markt bewegen konnten. 2001 wurde der Zuckerpreis freigegeben.
    Das dritte Beispiel der Erfolgsgeschichte Kayseris ist der Aufstieg der Möbelindustrie. Er ist ohne die massenhafte Binnenmigration der Türkei, ohne den Zug vom Land in die Stadt, nicht zu verstehen. In den Dörfern braucht man kaum Möbel. DieEinrichtung eines Dorfhauses besteht aus einem sedir , einem Podest, auf dem Matratzen, Kelims und Kissen liegen, man isst auf dem Boden von einem sofra, einem großen runden Tisch, man schläft auf Matratzen, die tagsüber zusammengerollt werden, und verstaut die Bekleidung in Körben, die man unter das Podest schiebt. In den Etagenwohnungen der Städte sind aber Betten, Schränke, Sofas, Tische und Stühle nötig, allein schon aus Platzgründen.
    Als ich in Istanbul eine kurdische Familie in einem gecekond u besuchte, bestand die ganze Wohnung wie im Dorf aus einer kleinen Küche und einem großen, mit Kelim-Kissen und Teppich ausgelegten Raum, in dem gegessen, gespielt und geschlafen wurde. Dort waren noch keine Möbel angekommen. Auch meine Eltern, die 1946 vom ländlichen Pinarbashe ins städtische Istanbul zogen, lebten dort in ihrer Einzimmerwohnung zunächst, wie sie es vom Dorf her kannten, mit Strohmatratzen und Kelims. Erst Ende der 1950er Jahre schafften sie sich eine Sitzgarnitur, einen Glastisch, Büfett und Kleiderschrank an. Aber daneben hatten wir in unserem kleinen Haus in Kadiköy ein türkisches Zimmer mit Teppich, Ofen und Diwan. Dort schliefen wir. In der »guten Stube«, dem Salon, standen die italienischen Möbel, die für uns Kinder im Alltag tabu waren.
    Kayseri ist eigentlich kein besonders günstiger Standort für die Möbelproduktion. Das Holz muss von weit her geholt werden, weil es in der Hochebene um den Erciyes keine Wälder gibt. Einer meiner vielen Cousins machte aus der Not eine Tugend und entwarf eine kleine Serie von genormten Metallmöbeln für die Küche. Er produzierte emaillierte Stand- und Hängeschränke und war innerhalb weniger Jahre Besitzer einer respektablen Fabrik. Die Industrialisierung der Möbelindustrie kam richtig in Schwung, als 1980 die Cek-yat –Sofas, die Schlafsofas, auf den Markt kamen. Diese Neuerung eines Kayserianer Möbelbauers entsprach vollkommen den Bedürfnissen der verstädterten Bevölkerung, die nun endlich im Salon eine Schlafstatt für den Verwandtenbesuch einrichten konnte. Die Marke »Istikbal«, Zukunft, revolutionierte die türkische Möbelindustrie, wie es »Ikea« in etlichen anderen Ländern

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