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Bittersüße Heimat.

Bittersüße Heimat.

Titel: Bittersüße Heimat. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Necla Kelek
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Verfahren, das allgemein akzeptiert ist und von keinerlei Skrupel begleitet wird. Auch in der klassischen chinesischen Malerei gilt derjenige als Meister, der die perfekteste Kopie erstellt. Es geht mir hier nicht um den rechtlichen oder moralischen Aspekt, sondern umdie mentale Wirkung, die die Nachahmung auf Dauer verursacht. Sennett spricht davon, dass Handwerk eine Entwicklung, eine Reifung bedeutet, in der die Arbeit im Sinne des Wortes körperlich und geistig »begriffen« werden kann. Nachahmung verweigert dies, weil das Ergebnis vorgegeben ist und nur die Abweichung bemerkt wird. Man kann immer nur so gut »wie« jemand anders werden.

Anatolischer Tiger
    Dass es auch anders geht, zeigen einige Beispiele aus der Region Kayseri, die von der ESI , der European Stability Initiative, einem gemeinnützigen Beratungs- und Forschungsinstitut, untersucht worden sind. 90
› Hinweis In dem Aufschwung, den diese zentralanatolische Region erlebte, machten die Experten einen »neuen Geist« aus, einen »islamischen Calvinismus«, in dem sich Arbeit und Leistung, Islam und Moderne ganz neu verbinden. Einige der Unternehmer Kayseris berufen sich dabei ausdrücklich auf Prinzipien, wie Max Weber sie in »Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus« beschrieben hat, zum Beispiel Celal Hasnalcaci, Besitzer eines Textilunternehmens und Sprecher des Unternehmensverbandes: »Der Aufstieg der anatolischen Kapitalisten liegt in ihrer protestantischen Arbeitsethik begründet. Keine persönliche Verschwendung, keine Spekulation, Wiederinvestition von Gewinnen.« 91
› Hinweis Die anatolischen Muslime besannen sich darauf, dass ihr Prophet Mohammed selbst ein Händler war, und argumentieren, »das Streben nach Profit im Dienste der islamischen Gemeinde« komme einem »Gebet«, der Verzicht auf Konsumption dem »Fasten in religiöser Hinsicht« gleich. 92
› Hinweis Said Nursi (1876-1960), der Vordenker der Nurculuk, der konspirativ arbeitenden Lichtbewegung, war es, der die Muslime drängte, sich westliche Wissenschaft und Technik anzueignen, um der Sache des Islam zu dienen. Und so entstand hier eine höchst erfolgreiche Verbindung. Fethullah Gülen, der einflussreiche Prediger und Begründer der »Nurculuc«-Bewegung, verkündet: »Für Ausdauer und Geduld werden wir mit Erfolg belohnt.« 93
› Hinweis
    Kayseri liegt genau in der Mitte der Türkei. Nach Osten bis Hakkari, nach Westen bis Edirne sind es jeweils 900 Kilometer, und der Erciyes, der »Hausberg« der Provinz, ist mit 3917 Metern der fünfthöchste Berg des Landes. Als die Römer die Stadt gründeten, hieß sie Caesaria, auch der heilige Gregor, der Gründer der armenischen Kirche, lebte hier, und unter den Seldschuken gab es im 12. Jahrhundert sogar eines der ersten – heute noch erhaltenen – psychiatrischen Krankenhäuser, wo man Musiktherapien zur Heilung einsetzte und eine medizinische Hochschule betrieb. Heute ist die Stadt eine erzkonservative islamische Stadt, die AK P gewinnt hier jede Wahl und gibt höchstens einige Stimmen an die nationalistische MH P ab. Der derzeitige Präsident der Republik, Abdullah Gül, kommt aus Kayseri und ging dort zur Schule. Hinter den dicken Mauern der Zitadelle, die im Zentrum thront, ist alles vereint, was diese Stadt ausmacht: eine Kaserne, eine Moschee, eine Karawanserei und der Basar. Abdullah Gül sagt über die Menschen von Kayseri: »Sie gehen in die Moschee, sie führen ein frommes Leben, aber sie sind gleichzeitig in der Wirtschaft sehr aktiv – das ist Modernität für mich.«
    Kayseri war schon immer eine vom armenischen Kaufmannsgeist geprägte Stadt, und dieser merkantile Geist blieb auch erhalten, als die Tscherkessen die Positionen einnahmen, aus denen die Armenier vertrieben worden waren. Ich kenne die Stadt gut, weil meine tscherkessische Familie sich zunächst in der Provinz Kayseri ansiedelte und viele aus anderen Zweigen meiner Verwandtschaft inzwischen in der Stadt wohnen, Unternehmen betreiben und zum konservativen Establishment gehören. Auch schon vor dem Aufschwung galt ein »Kayserianer« in der Türkei als geschäftstüchtig. »Der traditionelle Bewohner von Kayseri verbringt sein Leben mit der Berechnung von Käufen und Verkäufen, seiner Schulden und Kredite, seines Einkommens, seiner Ausgaben. Er kennt seinen Kontostand …«, hat der islamistische ehemalige Bürgermeister Sükrü Karatepe einmal gesagt. Die Menschen dort haben ein ähnliches Image wie bei uns die »fleißigen

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