Bittersüße Heimat.
gelang. Erstmals konnte man Möbel aus dem Katalog oder von exklusiven Verkaufsstellen bestellen und nach Hause liefern lassen.
Der Vorteil der Provinz
Der Aufschwung in der Provinz Kayseri verdankt sich den Unternehmen, die innovative Produkte erfanden und die Instrumente des modernen Marketings zu nutzen wussten, während sich der Staat aus der Wirtschaft zurückzog und der Markt gleichzeitig wuchs. An sich war diese Region nicht gerade prädestiniert für den Erfolg. Nicht nur das Holz, auch die Baumwolle muss von weit her geholt werden. Es gibt keine besondere Nähe zu Märkten oder Finanzplätzen, die Lage der Provinz mitten in Anatolien bietet keine erkennbaren logistischen Vorteile.
Gerade das aber mag doch ein gewisser Vorteil gewesen sein. Zentralanatolien wurde über Jahrzehnte von der zentralistischen Verwaltung in Ankara und der auf die Region Istanbul fixierten kemalistischen Elite und Unternehmerschaft »vergessen«. Die Elite in den Zentren hatte kein Interesse an diesem östlicheren Teil Anatoliens, er erhielt auch keinen föderalen Finanzausgleich oder andere Fördermittel. Und dass mit dem Banker Abdullah Gül in den Jahren vor dem Aufschwung ein Kayserianer bei der Islamischen Entwicklungsbank im saudi-arabischen Dschidda saß, der vielleicht seinen Brüdern daheim den ein oder anderen Tipp oder Kredit geben konnte, wird nicht von Nachteil gewesen sein.
So konnten ohne Dirigismus und politische Einflussnahme in der »Nische« der Provinz Unternehmen aus sich heraus erfolgreich wachsen. Weil die Kayserianer gute Händler sind, lernten sie von den Märkten, sich den Märkten anzupassen. Sie bauten Schlafsofas für kleine Wohnungen und bezogen sie so, dass es den Leuten gefiel. Die Getränkehersteller begriffen, dass es irgendwann opportuner war, Säfte in kleineren Flaschen abzufüllen, weil sie registrierten, dass es oft nur einer in der Familie ist, der Durst auf Aprikosensaft hat. Die Textilunternehmen produzierten Stoffe, die auch in San Francisco gefielen. Sie dachten vom Markt her. Und wer vom Markt her denkt, der findet auch mit anderen Produzenten Gemeinsamkeiten. So kann man Rohstoffbeschaffung, Logistik und Distribution zusammenlegen, Synergien schaffen.
Islamischer Pragmatismus
Ich sehe in Kayseri keine »protestantische Ethik« im Sinne von Max Weber am Werk, denn dazu gehörte – in seinen Worten – »ein spezifisch gearteter Rationalismus«, der hier ebenso wie in anderen Regionen der Türkei fehlt. Eher scheinen sich die Unternehmer in Kayseri ihre praktischen Erkenntnisse so anzueignen, wie man eben ein Telefon zu benutzen lernt – das kann man schließlich auch, ohne etwas über die grundlegenden Prinzipien drahtloser Kommunikation zu wissen. Es ist ein islamischer Pragmatismus, der die Erkenntnisse der kapitalistischen Ökonomie ebenso selbstverständlich übernimmt, wie er sich die technischen Errungenschaften des Westens zunutze macht.
Es geht, ganz im Sinne von Fethullah Gülens islamischem Pragmatismus, um die Aneignung von Wissen; geistige Errungenschaften wie Managementtechniken können schließlich nicht wie Handys oder Computer gekauft – oder geraubt – werden. Gemeint ist dabei kollektives Wissen, nicht individuelle Bildung. Gülen – überzeugt, »dass sich alles dem Menschen fügen wird, solange dieser sich Allah fügt« 94
› Hinweis – zielt langfristig darauf ab, die gottgewollte und »natürliche« Herrschaft des Islam über die Welt zu erlangen.
Dieser Pragmatismus ist einer Stärkung der islamischen Identität in allen gesellschaftlichen Bereichen verpflichtet. So wie die AK P setzen auch die anatolischen Unternehmer darauf, dem eigenen Weltbild entgegenstehende Werte für die beabsichtigten Zwecke nutzbar zu machen und sie gleichzeitig umzudefinieren. Wir erleben das nicht nur im ökonomischen Bereich, sondern auch in anderen Fragen: Aus der individuellen Freiheit wird das Recht, das Kopftuch zu tragen, aus dem Recht auf Religionsfreiheit wird der Anspruch auf Gebetsräume an öffentlichen Orten und in Fabriken abgeleitet.
So ist auch auf wirtschaftlichem Gebiet das Ende der Vorherrschaft der kemalistischen Eliten und die Dominanz einer »islamisch-anatolischen Bourgeoisie« bereits vorgezeichnet. Innerhalb weniger Jahre wurde der auf islamisches Kapital gegründete unabhängige Verband für Industrielle und Unternehmer MÜSIA D zu einer Organisation mit mehreren Tausend Mitgliedsunternehmen, die inzwischen über 12 Prozent des
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