Bittersüße Heimat.
kaufen könnte – die breiteste Straße im Großen Basar von Istanbul, die Kapakcilar Caddesi, ist die Straße der Gold- und Juwelenhändler.
Der Mangel an Investitionen führte schließlich zur Krise am Bosporus. Ohne eine entsprechende Infrastruktur musste die ständige Zunahme an erobertem Land und an Soldaten die Organisationskapazitäten des Hauses Osman überfordern, vor allem, da nicht in die Produktion von Nahrungsmitteln investiert wurde. Das System der feudalen Ausbeutung und das Beharren auf einer starren Gehorsamskultur verhinderten jeden technischen Fortschritt. Entscheidende Schritte der Modernisierung und Industrialisierung, die das übrige Europa in dieser Zeit tat, wurden im Osmanischen Reich nicht gemacht. Im 19. Jahrhundert geriet es in Folge kostspieliger Kriege in eine immense Verschuldung bis hin zum Staatsbankrott im Jahr 1875.
Atatürks staatlicher Dirigismus
Der »Etatismus«, einer der unter Atatürk errichteten »Pfeiler des Kemalismus«, bedeutete, dass der Staat überall dort unternehmerisch tätig wurde, wo privatwirtschaftliches Engagement fehlte. Das schien geboten, weil die türkische Wirtschaft weder über die nötige Infrastruktur noch über das nötige Kapital noch über eine ausgebildete Unternehmerschaft verfügte, die die Versorgung des Landes mit den nötigsten Dingen hätte sicherstellen können. Zum Ende des Osmanischen Reiches musste nicht nur Getreide aus der Ukraine, sondern auch der Filz für die Fese, die traditionelle Kopfbedeckung der Osmanen, aus dem Ausland eingeführt werden. Die sogenannten »Kapitulationen« – Zoll- und Handelsprivilegien, die der Sultan europäischen Staaten eingeräumt hatte, damit günstig Waren importiert werden konnten – richteten auch die noch vorhandenen türkischen Manufakturen und Kleinindustrien zugrunde, die dem Preisdruck der westlichen Industrieprodukte nicht gewachsen waren. Atatürk schaffte die Kapitulationen ab, aber Landwirtschaft und andere Industrieproduktionen wollten geplant sein.
Atatürk war ein Militär, der in Kategorien von Unabhängigkeit, Nachschub und Versorgung dachte. Für ihn zählten die Nation, die Einheit des Landes und die Armee; alle kämpften an einer Front, und es mussten Siege erzielt werden. In seinen Äußerungen zu Wirtschaftsfragen klingt ein Begriff wie »Ökonomie« eher wie »Artillerie«, »Industrie« wie »Infanterie«. Das freie Spiel der Kräfte, die Dynamik von Märkten, der auszutarierende Wechselvon Angebot und Nachfrage – das alles war nicht seine Welt, auch wenn er sich als Militärstratege durchaus mit unübersichtlichen Frontverläufen auskannte.
Am sichersten erschien es ihm, die wichtigsten Bereiche unter staatlicher Aufsicht mit staatlichen Bediensteten zu führen und gleichzeitig die Märkte zu regulieren. So wurden – wie im Osmanischen Reich – Ankaufspreise für Rohstoffe ebenso wie die Preise von Grundnahrungsmitteln wie Brot oder Zucker staatlich festgelegt, wenn nötig subventioniert. Das vorrangige Ziel war Importsubstitution, das heißt Produkte herzustellen, die die Türkei unabhängig von Einfuhren machten und die Bevölkerung mit dem Nötigsten versorgten. Es war eine Art Kriegswirtschaft, wie sie auch in der Sowjetunion, zuerst aus Not, dann aus Prinzip, praktiziert wurde.
Der staatliche Dirigismus hatte Folgen, mit denen die türkische Wirtschaft bis heute zu kämpfen hat. Die Subventionen führten zu einer enormen Staatsverschuldung und Hyperinflation, die das Land mehrfach, zuletzt im Jahr 2000, an den Rand des Staatsbankrotts führten. Die Staatsbetriebe waren meist ineffektiv, beschäftigten eine unverhältnismäßig große Zahl an Arbeitern und produzierten auf Dauer an den Bedürfnissen der Menschen vorbei. Die private Konkurrenz war zwar besser und flexibler, konnte sich aber aufgrund mangelnder Kaufkraft der Menschen nur schwer entfalten.
Außerdem führte der Dirigismus zum Erstarken einer kemalistischen Elite, die sowohl die staatlichen Unternehmen und Banken wie auch Behörden und Universitäten leitete. Sie war, Seite an Seite mit dem Militär und dem Justizapparat, der wahre Gewinner der Republik und bildete so eine Art kemalistisches Bürgertum, das den Geist der Republik prägte. Dass ein Großteil der Bevölkerung – vor allem die vielen, die weder in Ankara noch in Istanbul lebten – von den Segnungen des Kemalismus ausgeschlossen waren, fiel jahrzehntelang nicht auf und interessierte auch niemanden. Aber bereits in den 1950er Jahren
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