Bittersüße Heimat.
wurde deutlich, dass der »Etatismus« das Land auf die Dauer nicht modernisieren konnte.
Taqlid – der Fluch der Imitation
Wie ein roter Faden zieht sich ein Begriff durch die osmanisch-türkische Geschichte, der eigentlich aus dem islamischen Recht stammt: das Prinzip des taqlid , der Imitation oder Nachahmung, des Akzeptierens der Worte einer Person ohne jede Prüfung. In der Scharia ist damit gemeint, dass die Regeln der jeweiligen Rechtsschule befolgt werden müssen. Praktische Konsequenz hat das zunächst für den Umgang mit dem Koran. In den Koranschulen wird den Schülern nicht ein Verständnis ihres Glaubens nähergebracht, sondern der Koran wird »gelesen« oder rezitiert, das heißt das heilige – auf Arabisch verfasste – Buch wird auswendig gelernt, das gilt auch für die daraus resultierenden Lebensregeln.
Auch das türkische Schulsystem gehorcht dem Taqlid –Prinzip. Für jedes Fach und jedes Schuljahr gibt es landesweit nur ein Schulbuch. Wer dessen Inhalt memoriert, wird jede Prüfung bestehen. In den Schulstunden werden die einzelnen Kapitel erläutert und abgefragt. Und weil staatliche Schulen nicht einmal mehr das gewährleisten, sprießen überall dershanes , private Nachhilfeschulen, aus dem Boden, in denen der Stoff abends noch einmal wiederholt wird. Oft verdienen sich die Lehrer der staatlichen Schulen damit ein Zubrot.
Eine Ausbildung zum Handwerker wie in Deutschland gibt es nicht. Man geht als »Lehrling« zu einem Meister und arbeitet mit ihm einige Jahre, bis man seine Fähigkeiten nachahmen kann. Eine Ausbildung kann man nur auf der Universität erwerben. Selbst die Universitäten sind meist keine Orte der Forschung und Lehre, sondern akademische Durchlauferhitzer. Auch hier heißt »lernen«: auswendig lernen. Die Zahlenrelationen zwischen Lehrenden und Lernenden spiegeln die geringe Bedeutung wider, die man der Lehre, die mehr ein »Vorbeten« ist, beimisst: In der Türkei schließen im Jahr etwa gleich viele Studenten ihr Studium ab wie in Deutschland – 2005 waren es 224.000, an deutschen Hochschulen 252.000. Etwa 1,6 Millionen Studenten sind an 53 staatlichen und 23 privaten Hochschulen in der Türkei eingeschrieben, 89
› Hinweis in Deutschland gibt es, neben etwa 1,5 Millionen Jugendlichen in der Berufsausbildung, über 1,9 Millionen Studenten in 391 universitären Bildungsstätten. In Deutschland werden die Studierenden von 500.000 akademischen Mitarbeitern und Universitätsangestellten betreut, in der Türkei gelten 80.000 als »akademisches Personal«, das entspricht einem Verhältnis in Deutschland von etwa 1 zu 4, in der Türkei von 1 zu 20. Wer nicht in einen kritischen Dialog mit seinen Schülern eintritt, kann im Unterricht oder Studium Massenabfertigung betreiben.
Der Zweifel, das Infragestellen von Autoritäten und Gewissheiten, wird so nicht gelernt, und das hat Folgen: Ganz praktisch bedeutet es, dass weder aus der Türkei noch aus den arabischen Ländern in den letzten Jahrhunderten irgendwelche technischen oder sonstigen Innovationen auf den Markt gekommen sind, dass es in hundert Jahren nur einen muslimischen Nobelpreisträger der Naturwissenschaften gegeben hat – und der forschte in den USA . Schon das Osmanische Reich musste alle technischen Neuerungen – von den Feuerwaffen über den Buchdruck bis hin zu Werkzeugmaschinen – einführen. Das geschah durch den »Import« ausländischer Wissenschaftler, Handwerker und Fachleute. Angefangen von den sephardischen Juden, die gut ausgebildet, kenntnisreich und hoch motiviert aus Andalusien kommend dem Reich im 15. Jahrhundert einen Entwicklungsschub gaben, bis hin zu den vor den Nazis geflüchteten deutschen Wissenschaftlern, die nach 1933 an türkischen Universitäten lehrten.
Mangelnde Innovationen waren mitschuldig an der für lange Zeit schwachen Außenhandelsbilanz der Türkei. Auch hier regiert taqlid : Ein großer Teil der türkischen Textilindustrie ist mit der Produktion von Plagiaten befasst. Auf jedem Basar werden Taschen, Jacken, Jeans von Prada, Gucci oder Versace zu unglaublich niedrigen Preisen verkauft. Ich war in Istanbul in kleinen Studios und großen Nähereien, wo die Angestellten die allerneuesten Modelle aus Paris kopieren. Die Schneider und Schnittmeister dort sind wahre Imitationskünstler, die ihr Geschick darauf verwenden, aus Zeitschriftenfotos und Katalogen Schnittmuster abzuleiten, um die neuesten Kreationen zu kopieren.
Das Kopieren ist im gesamten asiatischen Raum ein
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