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Bittersüße Heimat.

Bittersüße Heimat.

Titel: Bittersüße Heimat. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Necla Kelek
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geschmückt, rechts und links waren Schüler in Uniform und mit Fackeln angetreten. Eine Kapelle spielte Janitscharenmusik, und die Honoratioren der Stadt, Bürgermeister, Militärkommandeur und ihre Begleiter, stellten sich vor dem Eingang auf, um die historische Fahne aus Samsun entgegenzunehmen, die für einige Tage in der Schule aufbewahrt werden sollte. In jedem Jahr werden die besten Schüler aus Samsun ausgewählt, um nationale Reliquien in die Provinzen zu bringen und die Kunde vom Sieg der türkischen Armee zu melden. Diesmal war es eine Schülerin. Die 16-Jährige hatte Tränen in den Augen, als sie die zusammengefaltete Fahne küsste, so wie man auch den Koran küsst, sie dann an die Stirn führte und anschließend dem Schulsprecher Kayseris überreichte. Eine Lehrerin las patriotische Verse vor, in denen reichlich Blut floss, canim sana feda olsun , ich lege dir mein Leben zu Füßen. Alle standen dabei ehrfurchtsvoll stramm und sangen, die Hand auf dem Herzen, die Nationalhymne.
    Dieser Ritus wirkte auf mich wie aus der Zeit gefallen – die pathetische Sprache, die Feier des Märtyrertums, das Einschwören auf die Fahne. Was hatte das alles mit den wirklichen Sorgen und Freuden der jungen Menschen zu tun, die hier versammelt waren? Ich wünschte mir, ein dummer Schülerstreich würde die Szenerie zurechtrücken. Aber den Beteiligten war es blutiger Ernst – so wie den zwanzig Schülern der Kreisstadt Kirsehir, die Anfang 2008 eine türkische Fahne mit ihrem eigenen Blut malten und sie dann dem Militär übergaben, um die »Operation« gegen die PKK – Kämpfer im Irak zu unterstützen. Wer gegen die Militäraktion protestierte, wurde Opfer nationalistischer Hetzkampagnen – wie die beiden Journalistinnen Perihan Magden und Ece Temelkuran, die eine Unterschriftenaktion dagegen initiierten.
    Meine Nichte hatte die Feier nicht mitverfolgt. »Ich kann dasalles nicht mehr hören«, sagte sie, als wir wieder zu Hause ankamen, und wunderte sich, dass ich mir so etwas antue.
    »Der Türke ist der Größte«
    Die Verehrung Atatürks ist in den Jahrzehnten der Republik längst zum sinnentleerten Ritual geworden. Erst als Erdogans AK P begann, den Islam als Leitkultur mehr und mehr durchzusetzen, besannen sich die republikanischen Kreise auf den Staatsgründer. Und nun schwenken alle Parteien die blutrote Fahne mit dem Halbmond um die Wette. Jeder, ob Islamist, Nationalist, Faschist oder Sozialdemokrat, beruft sich auf sie als Zeichen seines »Türkentums«.
    Auch in Ankaras Stadion marschiert am 19. Mai zur Feier der Nation die Jugend auf. Jede Schule, jede Universität, jede Behörde lässt ihre Leute mit einer Mappe von Farbtafeln auftreten und Massengymnastik und Massenschaubilder vorführen. Auf dem Rasen und auf den Rängen werden die Menschen zu einem Bild, zu einer Bewegung, zu einem Schrei. Gern werden dabei Szenen aus der jüngsten Geschichte nachgestellt. Die versammelte Staatsführung applaudiert. So etwas gibt es sonst nur noch in Peking und Pjöngjang.
    Ein Jahr später wollte ich dabei sein. Ich hatte mich in den Block mit den gelben Hemden gesetzt, zu den Mitarbeitern des Bildungsministeriums. Ihr Auftritt war schon vorbei, als ein junger Mann einige Reihen hinter uns immer noch laut jubelte. Er wurde von Sicherheitskräften blutig belehrt, dass man nicht aus der Reihe tanzt, wenn der Staatspräsident anwesend ist. Mich regt Gewalt auf, und ich hatte schon meine Handtasche gegriffen, um »nach dem Rechten« zu sehen. Meine Sitznachbarn irritierte aber nicht so sehr die Gewaltszene, sondern meine Empörung über die Schläger in Uniform. Plötzlich erhoben sich alle, es wurde gesungen, und in Sprechchören wurden die Republik und ihre Gründer gelobt und gepriesen. Mit dem Ausruf »Der Türke ist der Größte – Atatürk!« endete die Veranstaltung, der junge Mann mit der blutigen Nase war verschwunden. Einigermaßen ernüchtert begab ich mich inmitten der nationaltrunkenen Jugend zur Bushaltestelle. Dass ich fast zwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch des Sozia lismus eine türkische FDJ – Show vorgeführt bekam, befremdete mich sehr.
    Die Stadionfeier war ein Anachronismus, der deutlich machte, dass der Kemalismus am Ende ist – schon deshalb, weil es ihm nicht mehr gelingt, seine Ideen in zeitgemäße Formen umzusetzen und die Menschen wirklich zu überzeugen. So wie die Massendemonstration zum 40. Jahrestag der DD R nur noch eine müde Inszenierung war, während der Erosionsprozess des

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