Bittersüße Heimat.
das Mausoleum, ein Rechteck von 72 mal 52 Metern der mit einer Höhe von 17 Metern, ein Grab mit den Ausmaßen eines fünfstöckigen Wohnblocks und größer als der Parthenon auf der Akropolis in Athen. Eine Nekropole für einen Propheten des 20. Jahrhunderts, erbaut von seinen Jüngern von 1944 bis 1953: Es hat etwas von Größenwahn.
In der Ehrenhalle steht unter einem goldenen Baldachin der aus rotem Marmor gefertigte Sarkophag Atatürks, er ist nach Mekka ausgerichtet und soll vierzig Tonnen wiegen. Nur Napoleons Sarkophag hat ähnliche Dimensionen. Mich beeindruckt dieses männliche Prunkgehabe, dieses militärische Pathos nicht. Durch die Unverhältnismäßigkeit von Größe und Anlass wird die Absicht der Inszenierung überdeutlich: Hier soll für alle Zeiten ein Szenenbild für einen Helden geschaffen werden.
Das geschichtsvergessene Selbstbild
Unterhalb des Mausoleums, durch einen Seitenflügel zu betreten, befindet sich das Museum des Unabhängigkeitskrieges. Gleich im Foyer wird man über die letzten wichtigen Staatsbesucher informiert und kann ein Foto von Papst Benedikt XVI . in Anit Kabir mit der Bildunterschrift »President of Vatican« bestaunen. Ob der Papst sich Atatürk als Wachsfigur hinter dem Schreibtisch angesehen, seine Orden, Füllfederhalter und Gamaschen bestaunt hat? Die in Vitrinen aufgereihten und angestrahlten Devotionalien entbehren nicht einer gewissen Komik, finden sich darunter doch auch Bier-, Wein- und Raki-Gläser. Atatürk hat gern getrunken, um es deutlich zu sagen: Er ist an Leberzirrhose gestorben, eine Folge jahrelangen übermäßigen Raki-Konsums, an dem vielleicht sogar seine Ehe zerbrach. Zumindest aber waren die Gläser, aus denen er trank, von erlesener Qualität.
Außer zahlreichen Objekten aus Atatürks Privatleben werden vor allem szenische Gemälde in naturalistischer Manier präsentiert, um dem Besucher die »richtigen« Botschaften von der türkischen Geschichte einzubläuen. Die Schlachten des Unabhängigkeitskrieges von 1915 bis 1922, in denen die Türken gegen die alliierten Siegermächte des Ersten Weltkriegs und gegen die Griechen kämpften, werden in großen Reliefs dargestellt. Zu sehen ist, wie das opferbereite Volk das Vieh abliefert, wie Frauen Munition für die Front herstellen. Und natürlich jede Menge Siegesparaden, sterbende Gegner, untergehende Schiffe der Alliierten, gegen die der Vater aller Türken die entscheidende Schlacht siegreich geschlagen und schließlich die völkerrechtliche Anerkennung der heutigen Grenzen des Landes erstritten hat. Nur ein Bild fällt aus dem Rahmen: ein Massaker griechischer Soldaten an wehrlosen muslimischen Frauen und Kindern in Anatolien. Im Hintergrund des Bildes ist ein orthodoxer Priester zu sehen, der sein Kreuz wie einen Säbel in den Himmel reckt, während vor ihm unschuldige Frauen niedergemetzelt werden. Die Bildunterschrift behauptet, es sei »historische Gewissheit, dass Geistliche zu den Massakern anstifteten«. Weder von der Vertreibung der Armenier durch die Jungtürken noch von der Brandschatzung der griechischen Stadt Smyrna 1922 durch Atatürk ist die Rede. Stattdessen zeigt man ihn, wie er unter dem Jubel der Bevölkerung die »Befreiung Izmirs« feiert.
Dieses nationale Denkmal ist eine ideologische Inszenierung, bei der es nicht darum geht, die Auseinandersetzung mit der Geschichte zu ermöglichen, sondern die Besucher auf jenes geschichtsvergessene Selbstbild einzuschwören, das Präsident Abdullah Gül im Jahr 2005 im Parlament anlässlich der »armenischen Frage« formuliert hat: »Wir sind mit der Geschichte im Reinen« – das war kein Ausrutscher, kein Versehen, sondern dies ist die herrschende Auffassung, das offizielle Selbstbild der türkischen Politik.
Die blutrote Fahne
Abdullah Gül ging in Kayseri auf das Gymnasium, das auch eine Nichte von mir besucht. Vor zwei Jahren habe ich mich dort mit ihr getroffen, zufällig am 19. Mai. In der Türkei ist das ein Nationalfeiertag, der an den Beginn des Unabhängigkeitskriegeserinnern soll, als Mustafa Kemal Pascha sich 1919 mit seinen Getreuen aus Samsun am Schwarzen Meer aufmachte, um den Kampf gegen eine Übermacht der Feinde aufzunehmen. An diesem Tag werden überall in der Türkei Kränze an Atatürk-Denkmälern niedergelegt, Gedenkveranstaltungen abgehalten und große Sportereignisse für die Jugend veranstaltet. Denn der Jugend ist dieser Tag gewidmet.
Das Eingangsportal der Schule war mit einer riesigen türkischen Fahne
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