Bittersüße Heimat.
anderen deutschen Staates längst eingesetzt hatte, appellierte auch diese Feier der Nation an eine Einheit des Volkes, die nicht mehr existiert, an einen chauvinistischen Nationalstolz, der besser zu den noch existierenden Diktaturen in der Welt passt als in ein demokratisches Europa. Ich bin sicher, dass ich nicht die Einzige bin, die das als grotesk und beängstigend empfindet.
Aber kaum jemand in der Türkei traut sich, so etwas auszusprechen. Man gilt dann sofort als Vaterlandsverräter. Dabei könnte auch das kemalistische System eines Tages so plötzlich zusammenbrechen wie der anachronistisch gewordene Staatssozialismus der DDR . Oder explodieren, wie der Papierkorb an der Bushaltestelle, an der wir nach der Veranstaltung warteten. Drei Tage später wurde hier eine Bombe deponiert, sie sollte die vorbeifahrenden Mitglieder einer Sicherheitskonferenz treffen. Aber der Sprengsatz explodierte, bevor die Generäle die Stelle passierten. Sechs Menschen starben, und 80 wurden verletzt.
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Kaserne und Moschee
»Di e Demokrati e is t nu r de r Zug , auf de n wi r aufsteigen , bi s wi r a m Zie l sind . Di e Moschee n sin d unser e Kasernen , di e Minarett e unser e Bajonette , di e Kuppel n unser e Helm e un d di e Gläubige n unser e Sol daten. « Fü r da s Zitiere n diese s Gedicht s auf eine r Kundgebun g wurd e de r jetzig e Ministerpräsiden t Erdoga n 199 8 z u zeh n Monate n Gefäng ni s verurteilt . Seine n Anhänger n gil t e r seithe r al s wahre r Glaubens kämpfer , sic h selbs t ga b e r nac h de r Haf t al s republikanisc h geläuterte r Islamist . De r Isla m un d di e Republi k sin d i n de r Geschicht e de r Türke i imme r scho n ein e Liaiso n auf Koste n de r säkulare n Demokrati e einge gange n – Erdoga n beweg t sic h dami t gan z i n de r Traditio n de r kema listische n Gründer . E r setz t nu r di e Akzent e neu . Währen d Atatür k di e Religio n brauchte , u m di e Natio n »z u bauen« , brauch t Erdoga n di e Re publik, u m internationa l un d fü r di e Europäisch e Unio n »gesellschafts fähig « z u werden . Ni e ware n Religio n un d Staa t wirklic h getrennt , ni e wa r di e Türke i wirklic h säkula r ode r laizistisch .
Jahrzehntelang verstand sich die Armee als Hüterin des kemalis tischen Erbes , der Trennung von Staat und Religion . Wenn sie die ses Erbe gefährdet sah , putschte sie – mehrfach in der Geschichte der Türkei . Aber ihr , wie den Gründungsvätern , ging es dabei nicht um mehr Bürgerrechte oder Demokratie . Die Trennung von Staat und Religion war nicht einer aufgeklärten »europäischen« Überzeugung geschuldet , um Rechtsstaatlichkeit , Religionsfreiheit und individu elle Freiheit gewährleisten zu können , sondern Mittel zum Zweck , um das Primat der Nation , der Einheit , des Türkentums durchzuset zen . Ein Partner für jene , die sich für mehr Demokratie in dem Land einsetzen , war das Militär nie – denn mit der Demokratie wäre seine eigene Machtposition nicht vereinbar gewesen .
Das Militär hat sich wie die alte kemalistische Elite überschätzt – ein so widersprüchlicher Kurs musste au f Dauer Folgen zeitigen , die nicht mehr beherrschbar waren .
Einer der Grundpfeiler der türkischen Republik ist der Laizismus, die strenge Trennung von Staat und Religion. Und dieser Pfeiler ist schon seit Gründung der Republik morsch. Zwar schaffte Atatürk das Kalifat ab, schloss Derwisch-Orden und Koranschulen, verbot Fez und Schleier, verbannte die Religion aus dem öffentlichen Leben; gleichzeitig aber wollte er durch die Verschmelzung von Türkentum und Islam die »Einheit« des Landes herstellen – ein paradoxes Unterfangen und eine Art »Geburtsfehler« der türkischen Republik.
Atatürk wusste um die identitätsstiftende Kraft der Religion, er musste, um die Bevölkerung für sich zu gewinnen, den Islam in seine Republik einbinden. Aber es sollte ein »türkischer« Islam sein – der Koran wurde ins Türkische übertragen, die Predigten, der Muezzin-Ruf und die Gebete in den Moscheen sollten nicht mehr auf Arabisch, sondern nur noch auf Türkisch abgehalten werden. Von dem »Volksislam« der religiösen Bruderschaften und Orden wollten die Kemalisten nichts wissen. So wie sie aus den Restbeständen des multiethnischen Osmanischen Reichs ein Land der Türken machten, so verordneten sie dem multireligiösen Land der Christen, Juden, Griechisch-Orthodoxen, Schiiten und Aleviten einen modernen, laizistischen Staatsislam
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