Bittersüße Heimat.
sunnitischer Prägung. Für dessen Durchsetzung schuf das Parlament 1924 die Diyanet, das »Präsidium für Religiöse Angelegenheiten«, das heute eine milliardenschwere Missionsbehörde ist.
Die kemalistische Revolution war eine Revolution der Militärs, nicht der Demokraten. Der Staat wurde als autoritäre, zentralistische Organisation geformt, und das blieb er bis heute. Dass der Staat den Bürger auch vor dem Staat zu beschützen hat – dieser Gedanke findet sich nirgends. Die Grundrechte werden dem Einzelnen zwar gewährt, aber immer mit der Einschränkung, dass der Staat, seine Ideologie, das Militär höherwertig sind. So musste die Demokratie eine Fremde in diesem Land bleiben.
Nach dem Zweiten Weltkrieg sah sich denn auch die allein regierende Staatspartei CH P mit immer stärkerem Widerstand der mehrheitlich muslimischen Bevölkerung konfrontiert. Die ersten freien Wahlen von 1950 und 1954 gewann der religiös-konservative Adnan Menderes mit seiner Demokratischen Partei DP haushoch gegen die kemalistische CH P und degradierte Atatürks Nachfolger Ismet Inönü zum Oppositionsführer. Menderes förderte den Bau von Moscheen, richtete staatliche Korankurse ein und organisierte den Widerstand gegen die Säkularisierung. »Wir haben unsere bis jetzt unterdrückte Religion befreit«, erklärte er triumphierend zur Wiedereinführung des arabischen Gebetsrufs und des Religionsunterrichts. 25 Jahre nach Abschaffung des Kalifats begann die »Reislamisierung« des Landes. Für Nichtmuslime hatte diese Politik in Teilen des Landes tödliche Konsequenzen.
Am 6. September 1955 führte ein wohl von türkischen Geheimdienstlern im Zuge der Auseinandersetzungen um Zypern und um die »muslimische« Dominanz im Lande provozierter Konflikt mit den wenigen noch in Istanbul verbliebenen christlichen Griechen zu einem Pogrom. Orhan Pamuk hat die Ereignisse in seinen »Erinnerungen an eine Stadt« so beschrieben: »Zwei Tage lang wurde Istanbul für alle Nichtmuslime in eine Hölle verwandelt, die schlimmer war als ihr schlimmster orientalischer Albtraum, und später kam heraus, dass staatliche Agitatoren dem Pöbel in Aussicht gestellt hatten, es dürfe nach Herzenslust geplündert werden.« 4
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Das Militär putscht
1960 putschte das Militär Menderes aus dem Amt und verurteilte ihn mit seinen Genossen wegen »Hochverrats« zum Tode. Nun nahm die Armee die Zügel in die Hand, gründete den »Nationalen Sicherheitsrat«, veränderte die Verfassung und gab 1961 die Macht in die Hände von Ismet Inönü. Die Kemalisten waren wieder an der Regierung.
Ende der 1960er Jahre tauchte dennoch eine neue politische Figur auf, die eine Islamisierung der Türkei anstrebte: Necmettin Erbakan. Er polemisierte gegen das Assoziierungsabkommen der Türkei mit der Europäischen Gemeinschaft und gegen den westlichen Einfluss auf die Moral. Er gründete die Milli Görüs (Nationale Sicht), in die 1969 auch der damals fünfzehnjährige Tayyip Recep Erdogan eintrat.
1971 putschte das Militär erneut, diesmal, um die Republik vor dem Zugriff der extremen Linken und Rechten zu schützen, und ein drittes Mal 1980, um »die Einheit des Landes zu wahren« und auch aus Furcht vor dem Einfluss der »islamischen Revolution« des Ayatollah Khomeini.
Auslöser war eine von Erbakans Partei organisierte Kundgebung. 650.000 Menschen wurden verhaftet, 517 Todesurteile ausgesprochen, davon 49 vollstreckt, 600 Vereine und Verbände wurden verboten und 30.000 politische Aktivisten des Landes verwiesen. 5
› Hinweis
Moralische Erneuerung
Auch wenn das Militär am Laizismus der Republik festhielt, so sah es sich jetzt doch durch den ideologischen Druck der islamischen Revolution des Ayatollah Khomeini im Nachbarstaat Iran dazu gezwungen, eine stärkere Einbindung des Islam zu betreiben. »Kaserne, Moschee und Familie« wurde zum Leitfaden der moralischen Erneuerung, der Bau von Moscheen massiv gefördert und der bisher freiwillige Religionsunterricht obligatorisch gemacht – zugleich aber alles, was die »Einheit der Türkei« zu gefährden drohte, systematisch bekämpft. Dieser Kampf richtete sich in erster Linie gegen die Islamisten, die den Scharia-Staat anstrebten, traf aber auch die Kurden und die Aleviten. Die Kemalisten in Politik und Militär setzten nicht auf Demokratisierung der Gesellschaft, sondern auf einen kontrollierten Islam und das Türkentum.
Mit Turgut Özal eroberte 1980 erstmals ein muslimischer Politiker die Macht, der
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