Bittersüße Heimat.
nach Mekka pilgerte, Spenden an verbotene religiöse Einrichtungen legalisierte und dadurch die Renaissance der muslimischen Orden ermöglichte. Diese konnten jetzt Schulen und Universitäten einrichten, eine Chance, die besonders die Nurculuc-Bewegung Fethullah Gülens zu nutzen wusste. Heute gibt es über 130 Orden mit geschätzten zehn Millionen Anhängern. Özal privatisierte Teile der Wirtschaft und öffnete die Türkei für das internationale Kapital. Dadurch kam viel sogenanntes »grünes« Geld aus den arabischen Ölländern ins Land. Davon profitierten auch die muslimischen Unternehmer in Anatolien, denn die muslimischen Ordensbrüder gründeten umgehend ihre eigenen Banken und Netzwerke, die zum Aufschwung der anatolischen Provinzen wie Kayseri beigetragen haben.
1987 wurde durch eine Volksabstimmung das zehnjährige Politikverbot gegen die Angeklagten des Putsches von 1980 aufgehoben. Erbakan kehrte auf die politische Bühne zurück, etablierte mit dem Slogan von der »nationalen Sicht« und der »gerechten Ordnung« eine Gegenposition zur etatistischen Wirtschaftspolitik des Kemalismus und köderte insbesondere die Landbevölkerung mit dem Versprechen von mehr sozialer Gerechtigkeit.
1996 wurde er der erste islamistische Ministerpräsident der Türkei. Aber er manövrierte sich selbst ins Abseits, indem er einerseits zwar öffentlich immer wieder versicherte, zum Laizismus zu stehen, andererseits die Einführung der Scharia, der islamischen Rechtsordnung, förderte. 1997 brachte er auf Druck seiner Parteibasis ein Gesetzesvorhaben ins Parlament ein, um das Tragen des Kopftuches – für viele längst zum politischen Symbol geworden – in öffentlichen Gebäuden zu erlauben. Außerdem wollte er gläubigen Soldaten die Offizierslaufbahn eröffnen und bezeichnete die »iranische Revolution« als Vorbild für die Türkei. Das war dem Generalstab dann doch zu viel, das Militär drohte mit »Waffengewalt« und erzwang seinen Rücktritt. Ein Jahr später wurde seine Partei wegen »Missachtung der Trennung von Staat und Religion« vom türkischen Verfassungsgericht verboten. Ihre Mitglieder fanden bald eine Heimat in anderen Parteien der islamistischen Bewegung, unter anderem in der AK P unter Führung von Recep Tayyip Erdogan.
Dieser war 1998 zwar wegen der Zitierung des Gedichts, das sich damals auch in türkischen Schulbüchern fand, nicht nur zu zehn Monaten Gefängnis, sondern auch zu lebenslangem Politikverbot verurteilt worden – aufzuhalten war er damit nicht: 2002 gelang ihm mit der AK P ein überragender Wahlsieg, den er 2007 wiederholen konnte. Die Kemalisten glaubten lange, den Einfluss des Islam zähmen, kontrollieren, ja, beherrschen zu können – ein Irrtum, für den sie heute die Quittung erhalten. Die Menschen misstrauten der alten kemalistischen Elite, die sich für das »rück ständige Anatolien«, das Dorf, nie interessiert, sondern es immer verachtet hat. Gegen die Mehrheit der Bevölkerung, das muss inzwischen auch der Generalstab erkennen, ist auf Dauer keine Politik zu machen. So wie schon Atatürk Kompromisse eingehen musste, um die Religion für seine Vorstellungen einer nationalen Einheit zu nutzen, so bleibt heute auch dem Militär nichts anderes übrig, als sich mit der neuen muslimischen Elite zu arrangieren. Denn diese weiß die von den Kemalisten geschaffenen Instrumente, wie das »Präsidium für religiöse Angelegenheiten«, für die Stärkung ihres eigenen Rückhalts im Volk einzusetzen.
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Seelenmessen in der Ankunftshalle
Seit Jahren gibt es für die Hadsch , die Pilgerfahrt nach Mekka oder Medina , eine zunehmende Faszination unter der armen türkischen Bevölkerung und auch unter den muslimischen Türken in Deutsch land . Bereits bei meinen ersten Interviews mit türkischen Jugendli chen vor zehn Jahren erfuhr ich , dass sie die Hadsch von den fün f Säulen des Islam als ihre wichtigste Pflicht gegenüber Gott ansehen . Sie wollten wissen , wie ihr Prophet Mohammed gelebt hat . Und sie hofften , eines Tages selbst als Heilige , als Hadsch , angesprochen zu werden .
Die Träume der Jungen aus Hamburg-Wilhelmsburg scheinen sich inzwischen kollektiv zu verwirklichen – mit tatkräftiger Unter stützung der unter der AKP – Regierung finanziell gut ausgestatte ten Religionsbehörde Diyanet aus Ankara und der Islamverbände in Deutschland , die diese Fahrten organisieren und als jahrtau sendealte Tradition der Osmanen preisen , fahren jedes Jahr aus Deutschland
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