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Bittersüße Heimat.

Bittersüße Heimat.

Titel: Bittersüße Heimat. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Necla Kelek
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Gedichte von ihr. »Oh mein finsteres Herz, wie kann ich dich was fragen, was von dir erhoffen, wo du längst gestorben bist, ich aber muss noch leben …«
    Wieder müssen wir schlucken, ihre Großmutter, die Haci Hanim, sitzt mit den Geschwistern auf dem Sofa, schaut ganz erschrocken und sagt: »Sieh an, unsere Kleine, wie schön sie schreiben kann.« Dann liest der Sohn aus einem Brief vor, der ebenfalls von einer 17-Jährigen geschrieben wurde: »Liebster Onkel, wenn Sie wüssten, was ich in diesem fremden Land durchstehen muss. Meine Eltern können immer noch nicht Deutsch, sie streiten sichununterbrochen, und wir leben in ständiger Angst, dass irgendetwas Schlimmes passieren könnte. Aber es gibt auch schöne Nachrichten, mein großer Bruder ist gerade Vater geworden, der Kleine ist so süß und drollig, nur schlafen möchte er nicht. Da hat mein Bruder sich etwas Nettes einfallen lassen, er singt ihm mitten in der Nacht klassische türkische Musik von Dede Efendi vor und spielt dazu auf dem Tamburin. Das hilft, sagt er.«
    Es ist ein Brief von mir, vor 33 Jahren geschrieben. Bevor noch mehr Peinlichkeiten ans Licht kommen, sage ich höflich Gute Nacht und ziehe mich zurück. Ich muss am nächsten Morgen früh aufstehen, um meinen Flug nicht zu verpassen.
    Gegen halb sechs will ich schnell und leise verschwinden. Meine Tante ist aber schon auf den Beinen, packt mir börek und tatli für unterwegs und für meine Freunde in Deutschland ein. Eine große Tüte, die ich gerne mitnehme, ich bin süchtig nach diesen Leckereien. Dankbar für alles, möchte ich erstmals ihre Hände küssen, sie lässt es ausnahmsweise zu, nimmt dann aber sogleich auch meine Hand und küsst sie. Ich bin beschämt. »Dich liebte er ganz besonders«, sagt sie, und weinend fallen wir uns in die Arme.
    Ich nehme ein Taxi direkt zum Flughafen. Der Fahrer freut sich über die Tour und ist sehr stolz auf die neue Straße zum Flughafen. Wie eine Autobahn, meint er. Er ist begeistert von Erdogan. »Als Erstes hat er Autobahnen gebaut. Sehen Sie sich die Stadt an, es war doch vorher ein Steinhaufen, Chaos. Allah möge ihm ein langes Leben schenken, die Türkei verdankt ihm alles. Wer ihn nicht wählt, rennt ins Verderben.« Ich höre gar nicht richtig hin und bin froh, vor dem modernen Flughafengebäude aussteigen zu können. Als ich am Flugsteig sitze, vermisse ich plötzlich meine Tüte mit Börek. Verdammt, das wäre ein gutes Frühstück gewesen! Jetzt kutschiert der Taxifahrer damit durch die Gegend und wird womöglich selbst dieses unverhoffte Geschenk noch für eine Wohltat der AK P halten.

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Das Grab der Republik
    Es wäre an der Zeit , dass sich die Menschen in der Türkei von der Person Mustafa Kemal , genannt Atatürk , emanzipierten , damit über die Leistungen und Fehler des Menschen und Politikers konstruktiv gestritten werden kann . Aber der »Gazi« , der »Eroberer« , ist auch siebzig Jahre nach seinem Tod die Verkörperung der Türkei , er wird verehrt , und der Personenkult , der um ihn getrieben wird , ist durch aus zu vergleichen mit dem , was wir von anderen »Heroen« wie Sta lin oder Mao kennen . Gegen diesen Kult , der um den »Vater aller Türken« bis heute betrieben wird , hatte meine Mutter mich früh im munisiert .
    Mein Onkel hat Mustafa Kemal Atatürk sehr verehrt . Meine Mut ter aber hatte noch eine Rechnung offen mit den Republikgründern . Schon als Kind hatte sie mir eingeschärft , bei den allmorgendlich stattfindenden Fahnenappellen au f dem Schulho f ja nicht au f Ata türk und Inönü zu schwören . Sie traute ihnen nicht über den Weg . Atatürk hatte die rebellischen Tscherkessen – zu denen ihre Familie gehörte – mit dem Versprechen au f Amnestie nach dem Bürgerkrieg aus ihren Verstecken in den Bergen gelockt und dann einige doch er schossen . Inönü hatte nach dem Krieg die Bauern des »Weiten Tals« im östlichen Anatolien gezwungen , die gesamte Weizenernte des Jah res abzuliefern . Der riesige Getreidehaufen wurde von Soldaten be wacht und lag für alle sichtbar im Tal . Während die Familien hun gerten , faulte das Getreide nach den ersten Herbstregen vor sich hin und verdarb .
    Obwoh l mein e Mutte r di e neue n Freiheite n de r Republi k i n Istanbu l genoss , konnt e si e de n politische n Väter n de n Verra t nich t verzeihen . Wen n di e Nationalhymn e erklang , di e be i alle n feierli che n Anlässe n gesunge n wurde , bewegt e ic h ih r zulieb e lediglic h di e Lippen .
    In

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