Bittersüße Heimat.
jeder Stadt, in jedem Ort der Türkei steht Atatürks Denkmal; nach ihm sind Straßen und Plätze benannt, Stadien und Krankenhäuser. In jedem Büro, in jeder Amtsstube hängt sein Porträt, es ziert Geldscheine und Goldmünzen, die man zur Geburt, Beschneidung oder Hochzeit verschenkt. Kein Politiker, gleich welcher Parteizugehörigkeit, darf es versäumen, sich auf den »Vater der Türken« zu berufen. An Festtagen werden die Straßen mit seinem Porträt geschmückt, Schüler schwören auf ihn und küssen die Fahne – Mustafa Kemal Atatürk ist in der Türkei allgegenwärtig. Die einen verteidigen mit ihm die republikanischen Ideen und ihren gesellschaftlichen Status, die anderen nutzen ihn für ihre Zwecke – selbst wenn diese mit Atatürks Wunsch nach einer »Europäisierung« der Türkei nichts mehr gemein haben. Daran ist der Gründer der Türkei nicht unschuldig. Er wollte eine Republik, die sich an seinem Vorbild orientiert, und nicht, dass sich die Bürger emanzipieren und ihren eigenen Weg finden. Dass diese Selbstinszenierung ein falsches, weil unerreichbares Ideal beschwor, wurde mir bewusst, als ich Atatürks Grabmal in Ankara nach vielen Jahren wieder besuchte.
Inszenierte Geschichte
Dem Grabmal fehlt – trotz aller klassischen Proportionen – jedes menschliche Maß. Es ist von einer einschüchternden, »übermenschlichen« Größe. Das Gelände befindet sich auf einem Hügel mitten in Ankara, erstreckt sich über 750.000 Quadratmeter und ist als Wallfahrtsort inszeniert, dem Alltag der Menschen entrückt und so kolossal, dass sich jeder Besucher dort klein und nichtig vorkommen muss. Selbst das Anit Kabir , das Mausoleum, hat überdimensionale Ausmaße. Über 26 Stufen gelangt man zunächst zur »Straße der Löwen«, einem 30 Meter breiten und 260 Meter langen, von 24 steinernen Löwen gesäumten Weg – eine Erinnerung, so die offizielle Deutung, an das Reich der Hethiter. Zu Beginn zwei Türme, Symbole für die Unabhängigkeit und für die Freiheit, und zwei monumentale Figurengruppen im Stil des sozia listischen Realismus. Der Männergruppe, einem Soldaten, einem Bauern und einem Intellektuellen, stehen drei unverschleierte Frauen gegenüber, eine arbeitet auf dem Feld, die zweite weint und die dritte bittet um Gottes Gnade.
Der Touristenführer weist, als wir auf der Straße der Löwen entlangschreiten, auf das mit Abstand und versetzt verlegte Pflaster hin. Der Besucher solle aus Respekt vor dem Ort den Kopf senken. Wer den Kopf nicht beuge, werde stolpern, mahnt der Führer und hält diese Art von Museumspädagogik für eine kluge Sache. Damit die Ehrfurcht der Besucher anhält, müssen sie sich auf den langen Marsch begeben, ohne das Ziel in den Blick nehmen zu können. Denn der von Arkaden gesäumte Aufmarschplatz, der uns am Ende der Straße erwartet, ist abgesenkt. Es ist ein mit Travertin aus allen Regionen der Türkei gepflasterter Platz, in dessen Platten traditionelle Teppichmuster gefräst wurden. Steht man allein auf dem Platz, fühlt man sich klein, verlassen und hilflos, von Geschichte geradezu umzingelt, die sich in den Darstellungen der Reliefs an den Treppenaufgängen wiederfindet. Ist man mit vielen anderen dort versammelt, wie bei den großen Kundgebungen, wird man zu einem Teil der Masse. Vor Wind, Sonne oder Regen kann man sich nur am Siegesturm oder beim Turm des 23. April schützen. Nein, dieser Ort ist wahrlich kein Ort für Menschen. Er soll beeindrucken, Heldentum beschwören, einschüchtern, hier ist alles Pflicht und Stein gewordenes Dienen, hier wird demonstriert, dass der Einzelne nichts ist, die Sache aber – Atatürk, die Republik, die Fahne – alles.
Das Heldengrab
Arkaden begrenzen drei Seiten des Platzes. Dort befindet sich auch der Marmorsarg von Ismet Inönü, Atatürks treuestem Gefährten und Nachfolger. Die Platzierung seines Sarkophags weicht von der strengen Symmetrie der Anlage ab. Sein Grab wurde um einige Meter aus der Sichtachse gerückt und wirkt wie am falschen Ort abgestellt und danach vergessen. Vielleicht wollte man auch die anderen Staatspräsidenten auf dem Appellplatz einsargen, hat es dann aber nicht getan, weil schon Inönüs Nachfolger, Cemal Bayar, sowie sein Ministerpräsident Menderes wegen Hochverratszum Tode verurteilt wurden und auch andere ihrer Nachfolger dem Generalstab der türkischen Armee, der Hausherr der Anlage ist, nicht verehrungswürdig schienen.
An der Kopfseite des Platzes steht auf einem 42-stufigen Podest
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