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Bittersüße Heimat.

Bittersüße Heimat.

Titel: Bittersüße Heimat. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Necla Kelek
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Sie wird aber auch verletzt, »wenn sich ein Familienmitglied ›unehrenhaft‹ verhält, d. h. als Mann in den Ruf eines ›Feiglings‹, als Frau in den Ruf einer ›Hure‹ gerät. In beiden Fällen sind alle anderen Familienmitglieder mit betroffen: Von ihnen wird verlangt, die ›befleckte‹ Familienehre zu ›reinigen‹.« 25
› Hinweis
    Dass diese Definition in den Fällen von »Verbrechen im Namen der Ehre« beschönigend ist, zeigt eine aufschlussreiche empirische Untersuchung. Die Dicle-Universität im ostanatolischen Diyarbakir hat unter der Leitung des Arztes und Psychiaters Aytekin Sir mithilfe von Ka-mer 443 Männer aus der Stadt und aus der Umgebung zum Thema »Ehre« befragt. 26
› Hinweis
    Auf die Frage, was Ehre sei, antworteten 32,9 Prozent: die Frau, meine Familie. 18,4 Prozent sagten, Ehre sei, was ihre Religion ihnen befehle; für 13,7 Prozent war mit Ehre das Ansehen des Mannes in der Öffentlichkeit gemeint; und jeder Zehnte verstand darunter »das Benehmen der Frau in der Öffentlichkeit«.
    »Ohne Ehre« ist für fast jeden Zweiten (48,5 Prozent) der Befragten, wer zina , Ehebruch, begeht, für 12 Prozent ist die Ehre verloren, wenn die Frau den Ehebruch begeht, und für jeden Zehnten, wenn die Braut, Tochter, Schwester vor der Hochzeit die Jungfräulichkeit verliert.
    Auf die Frage, was sittsames Verhalten oder einzuhaltender Brauch sei, nannten fast 60 Prozent »die Regeln, die unsere Väter aufgestellt haben«, also die Traditionen; 17,7 Prozent nannten »die Einhaltung der religiösen Regeln«. Eine Abgrenzung von »Tradition« und »religiöser Regel« wurde nicht vorgenommen.
    Wichtigste Aufgabe der Gesellschaft ist für nahezu jeden Fünften (18,4 Prozent), die Augen vor Verstößen gegen den »Anstand« nicht zu verschließen; 12,5 Prozent wollten die »Sitten und Bräuche« geschützt wissen und 12,3 Prozent gaben als wichtigste Aufgabe der Gemeinschaft an, die »eigenen Frauen zu kontrollieren«. Für jeden Zweiten war die Aufgabe der Frau, »sich zu schützen«, für 28,6 Prozent »zu gehorchen«, für 5,4 Prozent »sich unterzuordnen«. 70 Prozent meinten, die Aufgabe des Mannes sei es, auf seinen Besitz (Familie, Frauen, Haus und Hof) aufzupassen; 13,9 Prozent sahen es als seine Verpflichtung, »die Frauen unter Kontrolle zu halten«; 7,6 Prozent: »die Frauen auf ihre Pflichten aufmerksam zu machen«.
    Die Frage »Wessen Aufgabe ist es, die Ehre zu schützen?«, beantworteten 23,9 Prozent mit »der Vater, der Bruder«; von 21 Prozent wurden »die männlichen Mitglieder der Großfamilie« angeführt, 20,1 Prozent waren der Meinung, die Frau müsse selbst aufpassen, 7,3 Prozent hielten das für eine Aufgabe des Ehemannes.
    Die Frage, ob die Frau bei »Ehrverlust« bestraft werden müsse, bejahten 83,7 Prozent, 16,3 Prozent verneinten sie. Als »Strafe«, die ihr in einem solchen Fall »zustünde«, verlangten 37,4 Prozent: »Sie muss getötet werden«; 25,8 Prozent würden sie verstoßen und sich scheiden lassen; 7,6 Prozent sagten: »Sie muss ins Haus eingeschlossen werden«; 3,3 Prozent: »Sie muss Selbstmord begehen.«
    An den Antworten wird deutlich, dass die »Ehre« von allen befragten Männern als gesellschaftliche Norm akzeptiert wird, für deren Verlust fast vier von zehn Befragten zu töten bereit wären. Niemand verweist auf die Gesetze, die das verbieten. Die Umfragezeigt in nüchternen Zahlen, dass in diesem Teil der Türkei der Mord an Frauen bei über einem Drittel der männlichen Bevölkerung auf Zustimmung trifft, auch wenn die befragten Männer das nicht Mord, sondern Verteidigung der Ehre nennen.
    »Mit wem beraten Sie sich in solchen Fällen?« – diese Frage beantwortete fast die Hälfte mit »dem Clan-, Familienältesten« (41,6 Prozent), jeder Fünfte sagte: »Entscheide ich selbst, ohne mich zu beraten« (19,1 Prozent); 13,5 Prozent beraten sich mit dem »Hodscha/Imam/Vorbeter« (10,9 Prozent) oder dem »Scheich, religiösen Führer« (2,6 Prozent).
    Auf einer vom British Council und von Ka-mer durchgeführten Konferenz im Oktober 2003, an der hohe türkische Regierungsvertreter und Organisationen teilnahmen, wurde zu diesem Thema einvernehmlich festgestellt, »dass die meisten der ›im Namen der Ehre‹ begangenen Verbrechen durch Fatwas, islamische Rechtsgutachten, legitimiert wurden. Diese Fatwas wurden von Menschen erstellt, die sich selbst als ›Imame‹ bezeichnen und auf lokaler Ebene großes gesellschaftliches Ansehen genießen. Das Amt

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