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Bittersüße Heimat.

Bittersüße Heimat.

Titel: Bittersüße Heimat. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Necla Kelek
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Russen, die für 2000 Euro bereit sind, jeden von euch zu erschießen. Ich sorge dafür nicht zum ersten Mal.«
    Ich telefoniere mit Fatma, rate ihr, sich in die Obhut von Frau B. zu begeben: »Du hast das Recht, selbst zu bestimmen, wie und wo du leben willst.« Fatma überredet ihren Cousin, sie zu einem Treffen mit Frau B. zu fahren. Frau B. besteht darauf, allein mit Fatma zu sprechen. Fatma weiß inzwischen, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis der Vater zurückkommt und alles von vorn beginnt. Sie will endlich in Ruhe gelassen werden. Frau B. bringt sie in einer Wohnung unter, einen Tag später steht dort der völlig konsternierte Cousin, den Frau B. informiert hat, dass Fatma wieder in ihrer Obhut sei, mit seiner Mutter vor dem Haus. Frau B. schlägt vor, für Fatma Amtsvormundschaft zu beantragen, denn Fatma sieht sich nicht in der Lage, sich gegen ihre Familie zu stellen.
    Die Polizei in Deutschland hat inzwischen Ermittlungen gegen die Familie wegen Freiheitsberaubung aufgenommen. Sie will den Vater verhaften, wenn er aus der Türkei zurückkommt, und vor Gericht bringen. Fatma hat Angst, um sich, um ihre Mutter und um ihre Geschwister – sie würden es zu spüren bekommen, hatte er gedroht, wenn er Fatma erwische.
    Fatma lebt jetzt an einem unbekannten Ort und kann eine neuePraktikumsstelle als Kinderpflegerin antreten. Der Vater traut sich nicht nach Deutschland. Bei meinem letzten Gespräch mit ihr war Fatma ganz fröhlich, weil sie sich auf die neue Arbeit freute. »Was meinst du, Abla, große Schwester, werden sie mich am Leben lassen?«, fragte sie mich.
    Sicher ist das nicht.

Verbrechen im Namen der Ehre
    Fatma wird mit der Bedrohung leben müssen. Ich weiß nicht, ob ihr morgen oder vielleicht erst in einigen Jahren, vielleicht aber auch nie, etwas »passieren« wird. Ihr Vater hat nach den Maßstäben seiner archaischen Kultur sein »Gesicht verloren«, er war nicht in der Lage, seine Tochter, seine »Ehre« zu kontrollieren, auch die Familie seines Bruders hat das nicht geschafft. Das ist eine Schmach.
    In meinem Buch »Die verlorenen Söhne« spreche ich von »Vaters Staat«, den die Männer als Herrschaftssystem in den Familien errichten. 23
› Hinweis Sein »Volk« sind seine Söhne, seine Frau(en) und Töchter. Er bestimmt, wer was zu tun hat, wer wen heiratet, er vertritt die Familie gegenüber der Gemeinde, der Öffentlichkeit. Frauen haben zu gehorchen, und Kinder stehen ihm gegenüber in einer Daseinsschuld. Denn ihm, so die Auffassung, verdanken sie ihr Leben, ihn haben sie später zu versorgen. In dieser Familiendiktatur sind die Väter unumschränkte Herrscher. Sie fühlen sich nie im Unrecht, denn niemand ist berechtigt, ihnen zu widersprechen. Der Vater ist für sein Verhalten niemandem Rechenschaft schuldig – weder seiner Frau noch seinen Kindern, nur Allah am Jüngsten Tag.
    Eine Frau, die wie Fatma handelt, Ungehorsam gegen den Vater zeigt und vor ihm geflohen ist, hat fitna , Unzucht, begangen und muss, so schreibt es der Koran vor, im Haus eingesperrt werden, »bis der Tod sie abberuft oder Gott ihr einen Ausweg schafft« (Sure 4, Vers 15). Erst so wäre Khans Ehre wiederhergestellt.
    Was ist Ehre?
    In den traditionellen türkisch-kurdisch-muslimischen Gesellschaften versteht man etwas ganz anderes unter »Ehre« als im Westen. Für aufgeklärte Europäer erwirbt man sich Ehre durch Leistung – man hat vielleicht einen großartigen Roman geschrieben, eine physikalische Entdeckung gemacht, Zivilcourage gezeigt oder von Abschiebung bedrohten Flüchtlingen geholfen. Dann wird jemand hier »geehrt«, man hat Ehre erworben. In den archaisch-muslimischen Gesellschaften kann man sie höchstens verlieren. Denn sie ist ein Besitz der Familie, sie besteht, schreibt die in Persien geborene Soziologin Farideh Akashe-Böhme, »in dem Ansehen, das die Familie in der Öffentlichkeit genießt. Der Einzelne partizipiert an diesem Ansehen, insofern er Mitglied der Familie ist. Er muss sein Verhalten in der Öffentlichkeit so einrichten, dass er das Ansehen der Familie nicht beschädigt. Die Ehre ist deshalb ein Besitz, der stets gefährdet ist.« 24
› Hinweis
    Der Kulturanthropologe Werner Schiffauer interpretiert »Ehre« in den vom Islam und von dörflichen Strukturen geprägten Gesellschaften als die »Integrität, die Unantastbarkeit und Unbescholtenheit eines Haushaltes«. Wer ein Mitglied der Familie angreift oder eine der Frauen beleidigt, verletzt die »Ehre« der Familie.

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