Bittersüße Heimat.
für religiöse Angelegenheiten hat diesen Einfluss unterschätzt.« 27
› Hinweis Was heißt »unterschätzt«? Angeblich gibt es keine Geistlichen, die nicht von der Diyanet ausgebildet und kontrolliert werden. Der von der Religionsbehörde eingesetzte Frauenausschuss wurde selbst in Kenntnis dieser Tatsachen nicht aktiv. Solange die Männer sich muslimisch geben, solange die Frauen gehorchen, ist es dem »Präsidium für religiöse Angelegenheiten« egal, was in den Häusern mit den Frauen passiert. Das Eingeständnis ist eine Bankrotterklärung der türkischen Republik. Sie ist nicht in der Lage, dem schwächsten Teil seiner Bevölkerung die elementaren Menschenrechte zu garantieren. Sie kann oder will den Frauen und Mädchen nicht helfen.
Wer diese barbarischen Taten mit Tradition, Sitte oder einer anderen »Kultur« rechtfertigt, betreibt Schönfärberei. Wie kann man ein Handeln, das Frauen zu einem Besitz erklärt, über den andere verfügen, als »Kultur« bezeichnen? Treffender wäre es, von krimineller Energie und von kriminellen Vereinigungen zu sprechen. Auch der Hinweis, diese Verbrechen seien tribale, also stammesegoistische Erscheinungen und hätten mit der Religion nichts zu tun, ist kaum überzeugend. Denn die Täter und Opfervon Ehrenmorden sind Muslime – gleich welcher Richtung. Und im Koran und durch die Vorbeter finden sie für ihr Verhalten die Legitimation. Sunniten sind genauso involviert wie Aleviten und Schiiten. Nicht nur im Osten, sondern in der ganzen Türkei.
In den wenigsten Fällen sind bei den Ehrverletzungen, die den Frauen vorgeworfen werden, tatsächlich andere Männer im Spiel. »Widerspenstigkeit« und Gerüchte, die über eine Frau gestreut werden, reichen aus, um das Mordkommando in Marsch zu setzen. Ihre »Ehre«, auch das machen die Antworten der Befragten deutlich, sehen die Männer bei jedwedem »Angriff« auf ihre Verfügungsgewalt über die Frau bedroht. Für sie ist die Gewalt über Frauen ein »Besitzstand«, legitimiert sowohl durch Tradition als auch durch die Vorschriften des Glaubens. Im Koran, Sure 4, Vers 34 heißt es: »Die Männer stehen über den Frauen, weil Gott einem Teil der Menschen einen Vorzug vor den anderen gegeben hat …« Auch die Ehe ist in der islamischen Rechtsauffassung ein Vertrag, der dem Mann eine Art »Nutzungsrecht« an der Frau einräumt. Wenn sie sich im Alltag, im Bett angeblich oder tatsächlich dem Willen des Ehemannes widersetzt, wird geschlagen, misshandelt oder der Tod beschlossen – gar nicht zu reden von der Gewalt, die schon vorher zur Durchsetzung des Männerwillens angewendet wurde. Das ist ein schreckliches Kapitel für sich.
Gegen wen sich die Vergeltung zur Wiederherstellung der Ehre richtet, ist dabei fast unerheblich. Kann der oder die eigentlich Gemeinte nicht erreicht werden, kann es ein beliebiges Mitglied der Familie der »anderen« sein. Denn in den Clans und Familien wird in Kategorien von »wir« und »ihr« gedacht und vergolten. Die Strafaktion kann sich gegen jeden der Beteiligten richten – die Frauenorganisation Ka-mer weiß ein Lied davon zu singen. Unzählige Fälle hat sie dokumentiert, in denen auch an anderen Familienmitgliedern Rache geübt wurde. Das Individuum existiert nur als Teil der Familie, der Gemeinschaft, als Einzelner ist man rechtlos. Die Familie ist das »Volksgericht«, das legitimiert ist, über den Lebenswandel jedes Mitglieds zu richten und bei Verletzung der Ehre das Todesurteil zu fällen. Das mag auch erklären, warum sich manche Mütter an den Verurteilungen ihrer Töchter beteiligen und die Töchter sich allzu oft widerstandslos diesen Urteilen unterwerfen.
Dass Männer sich anmaßen, über das Leben von Familienangehörigen zu entscheiden, sprengt den Rahmen einer zivilisierten Gesellschaft. Solche Familienjustiz ist auch in der Türkei verboten, aber ihr Nährboden, die patriarchalischen Strukturen, das System von Respekt und Gehorsam, sind nie grundsätzlich infrage gestellt worden. »Der Staat ist jene menschliche Gemeinschaft«, definiert Max Weber, die »das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht.« 28
› Hinweis Die türkische Republik, die sich so gern als starker Staat präsentiert, verfügt auf ihrem Staatsgebiet nicht über das Gewaltmonopol. Sie hat es den Männern nicht entwenden können – oder wollen.
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»Alles ist besser als der Tod«
In weiten Teilen der Türkei gibt es einen rechtsfreien Raum , in dem die
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