Bittersüße Heimat.
ihre Arbeit wissenschaftlich zu begleiten. Viele ihrer Projekte dienen auch dem Zweck, besonders in unterentwickelten, ländlichen Regionen mehr Arbeitsmöglichkeiten für Frauen zu schaffen, um sie ökonomisch unabhängiger von den Männern zu machen. In 23 Städten gibt es solche Initiativen wie Restaurants oder kleine Manufakturen, und etliche davon finanzieren sich inzwischen selbst. Ka-mer betreibt auch Kindergärten, um schon in der Erziehung der Kinder etwas zu ändern.
Eine grausame Statistik
Neben solchen Projekten und der täglichen Hilfsarbeit haben sie aber in den letzten Jahren vor allem Fachtagungen und wissenschaftliche Untersuchungen zum Thema »Morde im Namen der Ehre« initiiert. Seit 2003 gibt es ein Acil Müdahele Ekibi , ein Notfallteam für »Verbrechen im Namen der Ehre«. Waren es 1997 drei Fälle, in denen Frauen vor Anschlägen auf ihr Leben bewahrt werden konnten, stieg die Zahl 1998 bereits auf 23. Von Anfang 2003 bis Ende 2006 konnten 158 Frauen vor dem Tod gerettet werden, 29
› Hinweis zwei Drittel kamen aus zaza-kurdischen Familien. Das jüngste Mädchen war 13, die älteste Frau 54 Jahre alt. 11 Prozent waren jünger als 18, 43 Prozent zwischen 18 und 25, die anderen älter.
Ein Drittel der Frauen waren verheiratet, davon 50 mit einem von der Familie ausgesuchten Mann, 17 mit einem Verwandten, 13 in einer Geschwisterehe, 11 durch Zwang, 7 durch Entführung. Die Gewalt ging in 95 Prozent der Fälle von der eigenen Familie oder dem Ehemann aus. Bei unverheirateten Mädchen kam dieBedrohung vom Vater, den Brüdern oder einem männlichen Verwandten, nur in neun Fällen kam sie von außerhalb, durch einen Entführer oder Vergewaltiger.
Der Hauptgrund für das Todesurteil waren Ungehorsam oder Widerspenstigkeit gegen den Ehemann, der zweithäufigste Grund Gerüchte, die Frau habe unerlaubt das Haus verlassen oder sich geschminkt. 14,6 Prozent der Frauen sollen sich mit einem anderen Mann getroffen haben.
Wenn ein Mädchen unverheiratet schwanger wird, keine Jungfrau mehr ist oder von zuhause wegläuft, schändet es die Ehre der Familie. Selbst wenn es vergewaltigt wird – sogar wenn der eigene Vater der Täter ist –, beschmutzt es die Ehre und kann umgebracht werden. Semsiye Allak aus Yalimköy bei Mardin wurde 2004 öffentlich gesteinigt, als sie nach einer Vergewaltigung schwanger wurde. 30
› Hinweis Ihre eigene Familie hat sich daran beteiligt.
Bei all diesen Taten handelt es sich nicht um im Affekt begangenen Totschlag, sondern um sorgfältig geplante Morde, die wochen-, manchmal monatelang in den Familien besprochen werden. In 35,4 Prozent der Fälle entschied die Familie der Frau über das Leben, in 34,8 Prozent der Ehemann, und bei 12 Prozent war es eine gemeinsame Verabredung beider Familien zum Mord. 23 der 158 Frauen sollten nach dem Todesurteil gezwungen werden, Selbstmord zu begehen, und konnten sich dem Befehl nur durch Flucht entziehen. Jede vierte Frau, der Ka-mer geholfen hat, lebt inzwischen unter anderem Namen an einem anderen Ort, 34 Frauen gingen zu ihrer Familie zurück. Das weitere Schicksal von 53 Frauen ist der Organisation unbekannt.
Solche von Ka-mer geführten Statistiken bringen ans Licht, welche Morde verhindert wurden, sagen aber nichts darüber aus, welche tatsächlich begangen wurden. Wie hoch die Dunkelziffer ist, wie viele Frauen und Mädchen tatsächlich umgebracht oder zum Selbstmord gezwungen, eingesperrt oder zwangsverheiratet werden, darüber gibt es noch nicht einmal Schätzungen.
Fünf Frauen
Hinter jeder dieser Zahlen steht ein menschliches Drama. Von fünf Frauen, denen Ka-mer 2006 das Leben gerettet hat, sei hier beispielhaft erzählt. Sie wurden vergewaltigt, entführt, geschlagen, als Brautgeldersatz über Kreuz verheiratet oder der »Unreinheit« bezichtigt.
So wie die vierzehnjährige Aishe, 31
› Hinweis die von einem Cousin ihres Stiefvaters vergewaltigt wurde und wegen der »Schande« versuchte, sich das Leben zu nehmen. Zum Glück wurde sie rechtzeitig entdeckt und gerettet. Als ihre Eltern den Vergewaltiger anzeigten, entführte dieser den jüngeren Bruder von Aishe und drohte, ihn umzubringen, wenn das Mädchen seine Aussage nicht zurückziehe. Aishe konnte sich daraufhin bei der Polizei plötzlich »nicht mehr an den Täter erinnern«. Ihr Bruder kam wieder frei. Aber nun wollte Aishes Familie eine Entschädigung, die Familie des Täters weigerte sich zu zahlen. Daraufhin klagte Aishes Familie, der Vergewaltiger
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